Die Vorgeschichte der Existenzphilosophie
von virOblationis
Kant* hatte seine Philosophie auf das erkennende Subjekt gegründet: Das Erkannte ist das, was mit Hilfe der Anschauungsformen Raum und Zeit wahrgenommen und mit Hilfe der Kategorien denkend erfaßt wird; dabei bleibt das vom erkennenden Subjekt unabhängige Objekt, das Ding an sich, unbekannt. – Fichte** wies dem gegenüber darauf hin, daß Kant zwar das Erkennen ganz auf das Subjekt beschränkt sieht, doch mit dem Ding an sich das Objekt zugleich bewahrt, was zur Inkonsistenz des philosophischen Systems führt. Deshalb suchte Fichte das (materielle) Objekt als Nicht-Ich gänzlich durch das Subjekt, das Ich, zu erklären, um eine Philosophie aus einem Guß, einen allein auf das (geistige) Subjekt bezogenen Idealismus zu entwickeln. Den Erkenntnisprozeß faßte Fichte als Abfolge eines Dreischrittes auf; dieser besteht aus Thesis, dem sich selbst setzenden Ich, Antithesis, dem [vom Ich ebenfalls gesetzten] Nicht-Ich, und der Synthesis, dem absoluten Ich, dem sich gegenseitig begrenzenden und bestimmenden Ich und Nicht-Ich, einem als Einheit verstandenen Paar.***
* Immanuel Kant; geb. 1724, gest. 1804
** Johann Gottlieb Fichte; geb. 1762, gest. 1814
*** Dieser Dreischritt nach Fichte entspricht formal der Trinitätslehre, der Vater der Thesis, der Sohn der Antithesis und der vom Vater und vom Sohn ausgehende Heilige Geist der Synthesis.
Doch mit der Anerkennung der Tatsache, daß es andere Menschen, andere Ichs gibt, taucht das Objekt auch in Fichtes Philosophie wieder auf; es stellt sich auch die Frage, woher sein absolut gesetztes Ich überhaupt von der Existenz anderer Ichs wissen kann, da er sie nicht als von seinem Ich gesetztes Nicht-Ich verstanden wissen will. Auf die dadurch aufgeworfenen Fragen antwortet Fichte in „Die Bestimmung des Menschen (1800)“, das einander Erkennen und aufeinander Einwirken der verschiedenen Ichs sei Ausdruck der einen [gotthaften] Naturkraft, die alles Seiende hierarchisch geordnet hervorbringe und deren höchster Ausdruck im denkenden Lebewesen bestehe. „Ich bin eine durch das Universum bestimmte Aeusserung einer durch sich selbst bestimmten Naturkraft.“ „Ich aber, das, was ich mein Ich, meine Person nenne, bin nicht die menschenbildende Naturkraft selbst, sondern nur eine ihrer Aeusserungen… Auf dieselbe Weise entsteht mir der Begriff von denkenden Wesen meines Gleichen. … Kurz: die Natur wird in mir ihrer selbst im Ganzen sich bewusst…“* – Es ist also eigentlich die Naturkraft, die die Stelle des Ich beim späten Fichte** einnimmt, ein übermenschliches Ich, dessen sich die einzelnen menschlichen Ichs bewußt werden.
* Die Bestimmung des Menschen, Erstes Buch: Zweifel
** Den entscheidenden Einschnitt im Lebenslauf Fichtes stellte der Verlust seiner Lehrkanzel in Jena (1799) in Folge des sog. Atheismusstreits dar.
Der junge Schelling* schritt von der transzendentalen Philosophie als Erkenntnislehre fort zur Naturphilosophie, um zu zeigen, daß alle Daseinsformen aus der Natur als ihrer gemeinsamen Wurzel hervorgehen. Schelling verstand das Organische als Synthesis der Thesis Materie aus Schwerem und der Antithesis Wärme samt Bewegung aus Licht. Die höchste Form des Organischen bilde das denkende Lebewesen; so habe die Natur den Geist hervorgebracht. Der Geist leite die Geschichte und ziele auf die Verwirklichung einer sittlichen Weltordnung. – Das Gegenstück der Naturphilosophie des frühen Schelling, die darstellt, wie die Natur als Objekt das Subjekt hervorbringt, bildet dessen Transzendentalphilosophie, die den umgekehrten Weg beschreitet: Das denkende Subjekt erfaßt die Natur und damit sich selbst als Objekt. Beides wird von Schelling als Einheit betrachtet, so daß er schließlich folgert, der Geist sei stets Natur, und die Natur sei von Beginn an Geist.
* Friedrich Wilhelm Josef Ritter von Schelling; geb. 1775, gest. 1854; geadelt 1812 – Er verfaßte seine ersten philosophischen Schriften 1795; die frühe Phase seines Schaffens endete mit der Berufung auf einen Lehrstuhl zu Würzburg (1803); das bis dahin eigenständige Fürstbistum Würzburg wurde in jenem Jahr (durch den Reichsdeputationshauptschluß) dem Kurfürstentum Bayern angegliedert, so daß der Unterricht an der Universität nun auch von Protestanten übernommen werden konnte.
Fichte kritisierte Schellings Wendung von der erkenntnistheoretischen Transzendentalphilosophie zur metaphysischen Naturphilosophie,* und doch entwickelte sich auch sein Denken in derselben Richtung: Der späte Fichte sah Gott als einzige lebendige Wirklichkeit an, die somit im menschlichen Subjekt gegenwärtig ist und zu dessen Ebenbild sich das menschliche Subjekt formen soll. – Offensichtlich ließ sich die gesamte Wirklichkeit nicht auf das vernunftgemäße Erkennen des einzelnen menschlichen Subjekts zurückführen. So lag es nahe, hinter diesem ein höheres zu postulieren, die Natur als geistigen Urgrund, Gott. Bei Fichte ist dies – auf Grund seines frühen Todes – nur fragmentarisch angedeutet. Bei Schelling wird es weiter ausgeführt.
* Hegel bezeichnete Schellings Lehre als objektiven Idealismus und stellte sie Fichtes subjektivem Idealismus gegenüber.
In vergleichbarer Weise sah der mit Schelling während dessen Jenaer Zeit* befreundete Hegel** den menschlichen Geist als Teil des göttlichen an, wobei er Gott aber nicht als vollkommenes Wesen – bildlich gesprochen – oberhalb (oder als Natur unterhalb) des Menschen dachte, sondern vor ihm, in der Zukunft. Im Verlauf der Geschichte gelange der göttliche Geist zu vollkommenem Bewußtsein seiner selbst, und eben diesen Prozeß, nämlich den des sich in der Natur fortgesetzt vergegenständlichenden und sich daraufhin immer vollständiger verstehenden Geistes, stelle die Geschichte dar, in die jedes menschliche Subjekt eingebunden und an der es beteiligt sei. Doch in solch einer Rolle verliert das menschliche Subjekt seine Eigenständigkeit und damit seine Freiheit; es wird zu einem Teil der Weltgeschichte und geht gänzlich im göttlichen Geist als einem allumfassenden, übermenschlichen Subjekt auf. So weist Hegels Philosophie objektives Gepräge auf, weil ihr das eigentlich subjektive Element fehlt, wiewohl sie formal auf das Subjekt gegründet ist.
* 1798 – 1803
** Georg Wilhelm Friedrich Hegel; geb. 1770, gest. 1831
Hegel stellt wie Fichte den Willen vor die Vernunft. Dabei geht Hegel vom göttlichen Geist aus, der sich als Idee [wollend] äußeren Ausdruck [gleichsam am Ding an sich] verschafft, um die dadurch enstandene Erscheinung anschließend [wegen ihres Ursprungs in ihm selbst] als ihm eigene zu begreifen: Der Geist steht am Beginn als die Idee für sich, die Natur stellt die Idee an sich bzw. im Anderssein dar, und den Abschluß des Dreischrittes bringt die absolute Idee bzw. sich wissende Wahrheit. – Hätte Hegel anders als Fichte das Objekt nicht preisgebend die gesamte Wirklichkeit nicht allein vom Subjekt verstehen wollen, dann hätte Hegel – an Kant anknüpfend – ein eigenständiges Objekt [bzw. das Ding an sich] als eine Art Projektionsfläche des Geistes auffassen können. Doch stattdessen schreibt Hegel demselben Geist die (denkende) Erschaffung des Objekts zu, der dessen Erscheinung nach seinem Inhalt formt; somit jedoch leitet Hegel das Objekt vom Subjekt ab.
Während man bei Fichte nicht recht einzusehen vermag, wie alles so verschieden Seiende aus einer gemeinsamen Wurzel hervorgehen kann, bleibt nach Schelling rätselhaft, wieso es überhaupt Verschiedenes gibt.* Der frühe Schelling sucht den Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben, indem er beide als Absolutes miteinander identifiziert. Das Gegenteil liegt nicht nur beim frühen Fichte vor, der das Objekt im Subjekt aufgehen lassen will, sondern in anderer Weise auch bei Hegel, der lauter einander Widersprechendes dadurch auf ein Gemeinsames zurückführt, so daß er den Widerspruch ins Gemeinsame, in das Absolute hineinverlegt; doch ist der Widerspruch kein tiefgehender, wie er sonst in der neuzeitlichen Philosophie zwischen Subjekt und Objekt besteht, weil das Objekt bei Hegel eben als sekundäres Phänomen vom Subjekt als dem Primären her verstanden wird, aber das Subjekt trägt – wie gesagt – keine subjektiven Züge, sondern die des Objektiven.
*Hegel monierte, daß, wenn „alles eins“ ist, dies einer „Nacht“ gleiche, „worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind“, Phänomenologie des Geistes, Vorrede.
So hat Hegel ein System des objektiven Idealismus entworfen, während Schelling den objektiven Idealismus seiner Frühzeit zu einem subjektiven umgekehrt hat: Der späte Schelling sieht Gott als Person an, und konsequenter Weise muß er deshalb auch dazu übergehen, die Schöpfung als dessen Werk aus freiem Entschluß zu verstehen, nicht als ein notwendiges Geschehen. Während also Schelling Gott schließlich als Subjekt auffaßt, steht bei Hegel Gott zwar an der Stelle des Subjekts, doch fehlt ihm die Freiheit. Er entwickelt sich folgerichtig nach dem ihm innewohnenden Schema und gleicht darum dem materiellen Objekt, das den Naturgesetzen unterworfen ist; so ist es Marx* möglich gewesen, Grundzüge der Philosophie Hegels in ein materialistisches System zu übernehmen. – Ob Fichte, wäre er nicht 1814 bereits verstorben, sein Gottesverständnis mehr der subjektiven Auffassung Schellings oder der objektiven Hegels angenähert hätte, mag offen bleiben.
* Karl Marx; geb. 1818, gest. 1883
Mit der Thematisierung der menschlichen Freiheit wendet sich der späte Schelling stärker dem empirischen Subjekt zu; dem entsprechend fordert Schelling die Ergänzung der logischen, negativen Philosophie durch die geschichtliche, positive. Dabei geht Schelling jedoch von der Freiheit Gottes aus, von der er die des menschlichen Subjekts ableitet. – Kierkegaard* weicht in entscheidender Weise davon ab, indem er das menschliche Ich als ein von Gott isoliertes auffaßt, das in einer ganz diesseitigen Welt lebt.
* Sören Kierkegaard; geb. 1813, gest. 1855
*
Kierkegaard wuchs in Kopenhagen als Sohn eines der reichsten Männer des Königreiches auf, in dessen Haus gleichwohl Bescheidenheit in materieller Hinsicht herrschte: In den auf die Abtretung Norwegens an Schweden (1814)* folgenden Jahren gingen zahlreiche Unternehmen in Dänemark bankrott, doch Vater Kierkegaard** hatte sein Geld in königlichen Obligationen angelegt, die ihren Wert behielten.
* Gemäß dem Frieden von Kiel (1814) trat Dänemark Norwegen ab und erhielt von Schweden das (im Westfälischen Frieden von 1648 von Schweden als Reichslehen übernommene) nördliche Vorpommern samt Rügen; diese Gebiete überließ Dänemark im Jahr darauf Preußen, das dafür Lauenburg abtrat und zweieinhalb Millionen Taler bezahlte (1815). – England gab 1814 seine Eroberungen bis auf Helgoland an Dänemark zurück, behielt die dänische Flotte und leistete eine Entschädigungszahlung.
** Michael Pedersen Kierkegaard; geb. 1756, gest. 1838
Nach dem Tode des Vaters verließ sein jüngster Sohn Sören die Stadt Kopenhagen nur, um einmal den Geburtsort des Vaters zu besuchen* und vier Mal, um nach Berlin zu reisen; allein der erste Aufenthalt dauerte länger als wenige Wochen. Kierkegaard war während des Wintersemesters 1841/1842 Hörer an der Berliner Universität. Kierkegaard besuchte die Vorlesungen verschiedener Professoren, doch vor allem ging es ihm darum, Schellings erste Vorlesungsreihe in Preußen über die „Philosophie der Offenbarung“ zu verfolgen. Am 15. November 1841 hielt Schelling seine Antrittsvorlesung in Berlin.**
* Während einer vierzehntägigen Reise nach Jütland (vom 18. Juli bis zum 7. oder 8. August 1840), suchte Sören Kierkegaard das Dorf Saedding auf, aus dem sein Vater stammte.
** Die folgenden drei Reisen nach Berlin wird Kierkegaard eben dorthin unternommen haben, wenn er Kopenhagen für geraume Zeit verlassen wollte, weil er 1841/1842 schon einmal in Berlin gewesen war und die Stadt kannte; Kierkegaard bezog stets dasselbe Quartier am Gendarmenmarkt, woran seit 1997 eine Gedenktafel erinnert.
Schelling strebte danach, nicht nur das „was“ der Dinge mit Hilfe der Vernunft bzw. der negativen Philosophie zu erfassen, die Gott als das notwendig Existierende erkennt, doch nur als abstrakte Wahrheit. Den wirklichen Gott in seiner Freiheit als Schöpfer erfaßt die negative Philosophie nicht und ebenso wenig die Geschichte in ihrem nicht gesetzmäßigen Verlauf. Daher will Schelling über die Betrachtung der Geschichte zur (biblischen) Offenbarung zu gelangen, um so von Gott als dem Schöpfer her das „daß“ der Dinge zu verstehen, den Grund dafür, daß es sie bzw. die Welt gibt; dies unternimmt Schellings positive Philosophie, die von den entstandenen Tatsachen ausgeht.
Kierkegaard begrüßte die Unterscheidung, weil Schellings Wendung gegen eine bloß negative Philosophie und gegen die Beschränkung auf Vernunft bzw. Logik Kritik an Hegel verhieß, und eine solche begrüßte Kierkegaard; schon der Mangel an menschlicher Freiheit mußte zur Ablehnung des Hegel‘schen Systems durch Kierkegaard führen, der sich in seinem Denken ganz auf das Subjekt konzentrierte, und zwar kein ideales, sondern das empirische Ich des Menschen Sören Kierkegaard als Beispiel für andere gleich ihm. – Im Verlauf der Vorlesung wandelte sich Kierkegaards Haltung gegenüber Schelling. Dieser erfüllte Kierkegaards Erwartungen nicht, denn Kierkegaard verlangte es in Wahrheit nicht wie Schelling nach Verständnis der Tatsachen, sondern nach der Tat.
Kierkegaard äußerte sich anfangs euphorisch in bezug auf Schelling, später, im Februar 1842, abfällig, und er war dann froh, nach Kopenhagen zurückkehren zu können. Dort wollte er sein Werk „Entweder – Oder“ fertigstellen. Tatsächlich erschien es 1843, wobei Kierkegaard sich unter mehreren Hüllen verbarg, indem er das Pseudonym Victor Eremita benutzte und diesen als Herausgeber aufgefundener Texte bezeichnete, die verschiedenen Autoren zugeschrieben werden. In „Entweder – Oder“ unterscheidet Kierkegaard die ästhetische und die ethische Einstellung zum Leben. Gemäß der ästhetischen geht der Mensch im Lebensgenuß auf. Die ethische Haltung dagegen nimmt den Standpunkt der Vernunft ein, die sich ihrer Wahlfreiheit bewußt ist: Der Mensch ist nicht gezwungen, sich dem Genuß hinzugeben, sondern vermag, zwischen gut und böse zu unterscheiden und soll sich die Zuwendung zum Guten als Pflicht auferlegen. – Man vermag diese Gedanken Kierkegaards noch ohne weiteres auf Schellings Philosophie zurückzuführen: Die ästhetische Haltung entspricht der Natur nach Schelling, indem sie dem jeweils Eigenen, Realen, Regellosen, dem Wollen folgt; das Subjekt geht dabei im Objekt auf. Die ethische Haltung entspricht der Existenz. dem Allgemeinen, Idealen, der Ordnung und Vernunft; das Subjekt nutzt die ihm gegebene Freiheit.
Über die ethische Einstellung hinaus geht die religiöse, wie Kierkegaard später schrieb, die sich dazu entschließt, im Glauben jenseits des rationalen Denkens zu der durch nichts mit der Welt verbundenen Gegenwart Gottes hinüberzuspringen, um dann das Leben als Fremdling in der Welt zu führen: Dies zeigt deutlich Kierkegaards manichäisches Verständnis des Verhältnisses von Gott und Welt, die in einen Gegensatz zueinander gebracht werden: Das Subjekt vermag nur dann als Subjekt zu existieren, wenn es seine Verbindung mit dem Objekt, mit der Natur sowie der Vernunft, zerreißt.
Kierkegaard verkennt, daß der Mensch ebenso wie die übrige Welt von Gott geschaffen ist. Gott widerspricht der (menschlichen) Vernunft nicht, sondern überhöht sie durch seine (über-vernünftige, nicht irrationale) Offenbarung. Gott steht der irdischen Wirklichkeit nicht fremd gegenüber, sondern trägt sie, um sie von der Erschaffung zur Erlösung zu führen. – Es stellt sich sogar die Frage, ob nicht der Gott, den Kierkegaard jenseits von Vernunft und Ethik lokalisiert, der Böse ist, und die Welt, die immerhin Genuß gewährt, das Gute, das zu lassen sei. Zumindest ist der Gott Kierkegaards ein sich an nichts bindender, grausamer Tyrann.
Kierkegaard war in seinem Denken anfangs Schellings Unterscheidung von Natur und Existenz gefolgt. Mit der Verkündung einer religiösen Haltung und ihrer Gleichsetzung mit der Existenz, in welcher das Subjekt erst eigentlich zu sich und seiner Freiheit findet, wobei der Natur sowohl die ästhetische als auch die ethische Haltung zugerechnet werden, verändert sich der Begriff der Existenz grundlegend. Es fehlt ihr nun das Allgemeine samt der Vernunft; es bleibt ihr nur die Freiheit des Subjekts. Doch dieses ist ganz vom Objekt getrennt. Der Sprung zu Gott mündet in die reine Willkür, in absolut gesetzte Freiheit. – Was bleibt noch von Gottes essentia, seinem Wesen? Sie ist – in ihrer vollkommenen Freiheit – inhaltsleer.
So aber darf Gott nach Kierkegaards Interpretation von Gen. 22* dem Abraham selbst eine entsetzliche Sünde abfordern. – Kierkegaards Interpretation des Isaakopfers in Gen. 22 zu Folge gebietet Gott einem einzelnen Gläubigen etwas, das er zugleich jedem Menschen durch sein Gesetz verbietet, nämlich einen anderen Menschen zu töten, hier Abraham den Isaak, seinen Sohn. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung des Deus absconditus vom Deus revelatus, des verborgenen Gottes vom offenbarten Gott, in lutherischer Tradition erscheint Kierkegaards Interpretation durchaus nachvollziehbar. Als Deus revelatus gebietet Gott, sich an die Moralvorschriften zu halten, als Deus absconditus ist er darüber hinaus und bringt nicht nur das Gute hervor, sondern auch das Böse.
* Das Vorhaben Abrahams, den eigenen Sohn – gemäß der Forderung Gottes an ihn – als Opfer darzubringen, mißversteht Kierkegaard in „Furcht und Zittern“ als entsetzlichste Sünde, weil er die rechtliche Stellung des Kindes im Alten Orient nicht kennt, denn daß auch das Leben des eigenen Kindes vom 5. Gebot geschützt wird, hatten die Menschen erst noch zu begreifen; gerade Gen. 22 trug dazu bei. Gegenwärtig sind die Menschen im Begriff, es wieder zu vergessen, wie die Abtreibungspraxis zeigt.
„Das Paradoxon des Glaubens ist somit dies, daß der Einzelne höher ist als das Allgemeine, daß der Einzelne…sein Verhältnis zum Allgemeinen durch sein Verhältnis zum Absoluten bestimmt… Das Paradoxon kann auch so ausgedrückt werden, daß es eine absolute Pflicht gegen Gott gibt; …dann ist das Ethische zum Relativen erniedrigt.“ „Verhält es sich so, dann hat der Glaube im Dasein keinen Platz, dann ist der Glaube eine Anfechtung, und Abraham ist verloren, weil er ihm nachgegeben hat.“* – So wird auch das Paradox des Vaters Kierkegaards verständlich, der sich in religiöser und moralischer Hinsicht nicht an das hielt, was von ihm selbst verkündigt wurde: Sören Kierkegaard charakterisierte seine religiöse Erziehung durch den Vater als „ungeheuer streng“; daher erschien dem jüngsten Sohn das Christentum zeitweise als „ungeheuerliche Grausamkeit“.** Sein Vater hatte als Elfjähriger Gott verflucht und meinte lebenslang, dies sei eine Sünde, die von Gott nicht vergeben werden könne; wahrscheinlich erfuhr Sören davon erst kurz vor dem Tode des Vaters. Außerdem fand Sören Kierkegaard allem Anschein nach heraus, daß der Vater die Mutter als sein Dienstmädchen noch vor Ablauf des Trauerjahres (wegen des Todes der ersten Ehefrau) geschwängert, sich dann vom Geschäft zurückgezogen und sie geheiratet hatte, so daß das erste Kind des Paares nur wenige Monate nach der Eheschließung geboren wurde.
* Furcht und Zittern
** s. „De omnibus dubitandum est“, An allem ist zu zweifeln; verfaßt unter dem Pseudonym Johannes Climacus von Sören Kierkegaard und erst nach seinem Tode veröffentlicht.
Nach der Überzeugung von Vater Kierkegaard sollte seine Schuld die Ursache für den frühen Tod aller seiner Kinder sein, wie Abrahams Gehorsam die Ursache für Isaaks vorzeitiges Ende zu werden drohte; doch Isaak überlebte, und so auch zwei der Kinder von Vater Kierkegaard, nämlich Peter* und Sören. – Die ethische Einstellung, von der Kierkegaard in „Entweder – Oder“ geschrieben hatte, reichte zur Rechtfertigung des Verhaltens des Vaters in den Augen seines Sohnes anscheinend nicht aus; die ethische Haltung hatte als ein Stadium auf dem Lebensweg durch ein anderes, höheres überwunden zu werden.
* Peter Christian Kierkegaard; geb. 1805, gest. 1888; lutherischer Theologe, Bischof der dänischen Staatskirche (1857) und Politiker (1867 Minister); während der letzten Lebensjahre verschlimmerte sich seine Schwermut zur Geisteskrankheit. – Man vergleiche letzteres mit dem Gemütszustand Sören Kierkegaards nach dem Zeugnis seiner Schriften: Offenbar hatte die religiöse Erziehung durch den Vater verheerende Auswirkungen.
Kierkegaard drohte offenbar, den Glauben zu verlieren, seit er entdeckt hatte, was sein Vater verschwieg: Als der Vater „sich abwandte und das Messer zückte, sah Isaak, daß Abrahams Linke sich in Verzweiflung ballte… …Isaak hatte den Glauben verloren. In der Welt ist darüber niemals ein Wort verlautet, und Isaak[-Sören] hat nie zu einem Menschen darüber gesprochen, was er gesehen [bzw. in bezug auf das Geburtsdatum seiner ältesten Schwester errechnet] hatte, und Abraham[-Kierkegaard Senior] ahnte nicht, daß es jemand gesehen hatte.“* – In demselben Jahr 1843, in welchem „Entweder – Oder“ sowie „Furcht und Zittern“ erschienen, notierte Kierkegaard an seinem Geburtstag, dem dreißigsten (5. Mai 1843), für sich privat: „Nach meinem Tode soll niemand in meinen Papieren (das ist mein Trost) eine einzige Erklärung finden über das, was mein Leben eigentlich ausgefüllt hat, die Geheimschrift in meinem Innersten…“
* Furcht und Zittern
Die Beschreibung der ethischen Einstellung reichte nicht aus, um den Vater zu verstehen. Erst mit Hilfe des das Moralische überbietenden religiösen Stadiums gelang dies in abstrakter Weise. Im religiösen Stadium unternimmt der Mensch[en-Sohn] den Sprung, um Gott[-Vater] zu erreichen und sein Leben wieder von ihm her zu verstehen. Dieselbe Lösung ließ sich in Form des Isaakopfers gleichnishaft darstellen. Beide Male blieb das Geheimnis gewahrt. „,Keiner war so groß wie Abraham; wer ist imstande, ihn zu verstehen?‘“*
* Furcht und Zittern
Wenn man die Gedanken Kierkegaards über das religiöse Stadium saecularisiert, gelangt das Subjekt durch den Sprung nicht zu einem höheren Wesen, sondern zu sich selbst; es setzt sich an die Stelle, welche Gott einnehmen sollte. Danach bestimmt das menschliche Subjekt also selbst in vollkommener Freiheit seine eigene Existenz; es ist sich selbst letzte Instanz – für ein Leben in einer wie auch immer beschaffenen, vorfindlichen Wirklichkeit. Das Subjekt konstituiert sich als empirisches, nicht ideales Ich in der Welt ohne Rücksicht auf sie als das Objekt. – Solcher Existenzialismus geht über den Manichäismus hinaus zum gotthaften Übermenschen der Gnosis; den Weg dorthin bereitet ihm Kierkegaard.
Mit den Menschen um ihn her befaßte sich Kierkegaard in seinen Tagebuchnotizen, den Geheimen Papieren, „Papirer“, nicht als eigenständigen Persönlichkeiten, sondern es ging ihm stets bloß um sein Verhältnis zu ihnen. Er suchte auch nicht nach der objektiven Wahrheit, sondern nach derjenigen, wie er sagte, „die Wahrheit für mich ist“*. Mit Blick auf Kant könnte man formulieren: Das Ding an sich ist Kierkegaard gleichgültig; es geht ihm allein darum, wie jedes Ding ihm persönlich erscheint. – Kierkegaard versteht sich demnach als Mittelpunkt seiner Welt als der einzig relevanten Wirklichkeit. Dies käme im objektiven Sinne Gott zu, doch die Egozentrik** ermöglichte es Kierkegaard, sein Ich eine solche Position einnehmen zu lassen.
* „…som er Sandhed för mig…“ Dies schreibt Kierkegaard unter dem Datum des 1. August 1835 in seinen Journalen und Aufzeichnungen, „Journalerne“, und er versteht diese Wahrheit als Idee, für er leben und sterben will.
** Diesen Wesenszug übernahm Sören Kierkegard offenbar – im Zuge seiner religiösen Erziehung – vom Vater, denn dessen Überzeugung, auf Grund seiner Versündigung müßten alle seine Kinder früh sterben, bezeugt – gegen Ez. 18 – eine äußerst egozentrische Weltsicht.
*
Kierkegaards Werke fanden bei seinen dänischen Zeitgenossen nur geringe Beachtung. Erst durch Impulse, die vom deutschen Sprachraum ausgingen, gelangten sie zu größerer Bekanntheit. – Am Beginn steht die Tätigkeit des als Geistlicher in Halberstadt wirkenden Albert Bärthold*. Er übersetzte ab 1872 einige Schriften Kierkegaards und verfaßte dazu eigene Monographien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts interessierten sich vor allem Rudolf Kassner** und Theodor Haecker*** für Kierkegaard.
* geb. 1843, gest. 1918
** geb. 1873, gest. 1959
*** geb. 1879, gest. 1945
Kassner, der in Mähren als Sohn einer schlesischen Familie zur Welt kam und in katholischer Umgebung aufwuchs, war Kulturphilosoph und Schriftsteller, gut bekannt u.a. mit Rilke*, Hugo von Hofmannsthal** und Georg Lúkacs***. Durch Kassner lernten andere kulturell und künstlerisch Engagierte der Jahrhundertwende Kierkegaard kennen. – Der katholische Schriftsteller und Kulturkritiker Theodor Haecker stammte aus der Umgegend Heidelbergs. Er machte Kierkegaard durch von ihm veröffentlichte Artikel vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges (1914 – 1918) bekannt.
* Rainer Maria Rilke; geb. 1875, gest. 1926
** Hugo Hofmann, Edler von Hofmannsthal; geb. 1874, gest. 1929
*** ungar. György Lukács; geb. 1885, gest. 1971
Der Eugen Diederichs Verlag (Jena*) hatte 1908 seinen ersten Verlagskatalog veröffentlicht und entschloß sich sogleich zu einer Kierkegaard-Gesamtausgabe, die von 1909 bis 1922 erfolgte. Zwei Übersetzer wurden nacheinander für den Eugen Diederichs Verlag tätig, Hermann Gottsched** und Christoph Schrempf***. Bei beiden handelte es sich um protestantische Theologen, die bereits zuvor Werke Kierkegaards ins Deutsche übertragen hatten, Schrempf seit 1890.
* Der Verlag wurde 1896 in Florenz gegründet; 1904 erfolgte der Umzug nach Jena.
** geb. 1848, gest. 1916
*** geb. 1860, gest. 1944
Christoph Schrempf wurde 1892 war er als Pastor aus dem Dienst der Würtembergischen Landeskirche entlassen, da er sich weigerte, das Apostolische Glaubensbekenntnis zu sprechen.* – Hermann Gottsched unterrichtete** an der Basler Predigerschule, einer protestantischen Ausbildungsstätte für Missionare, die 1876 gegründet worden war und ein Jahr vor Gottscheds Tod geschlosssen wurde (1915); Gottsched blieb aber in Basel und verstarb dort. Da er als Lehrer an der Predigerschule gewirkt hatte, wird er ihrer geistlichen Ausrichtung entsprechend zur Richtung der aus der Tradition des Pietismus hervorgegangenen Erweckungsbewegung*** gehört haben.
* Schrempf war nicht der erste Pastor, der sich so verhielt. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es derartige Vorfälle mit anschließender Amtsenthebung; man sprach vom Apostolicumsstreit. Er fand sein Ende dadurch, daß der deutsche Protestantismus die Aussagen des Apostolicums nicht mehr unbedingt wörtlich auffaßte. Ab ca. 1960 verwendete man daher in Deutschland neben dem Apostolicum auch gekürzte, erweiterte oder ganz anders lautende Bekenntnisse in protestantischen Gottesdiensten, ohne daß dies noch irgendwie Anstoß erregt hätte.
** Wann genau?
*** Die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts ist durch einen stärkeren übergemeindlichen Charakter geprägt als der vorangegangene Pietismus. – Die pietistische Tradition konzentriert sich einseitig auf das fromme Subjekt mit seinen religiösen Erlebnissen, während die von der Aufklärung geprägte Theologie sich mehr dem Objekt und damit der Wissenschaft verpflichtet sieht.
Gottsched blieb als Übersetzer dicht am dänischen Original der Texte Kierkegaards. Doch nachdem die ersten Bände der Gesamtausgabe erschienen waren, starb Gottsched 1916. Schrempf folgte ihm als Herausgeber der Gesamtausgabe nach. Im Gegensatz zu Schrempf scheute sich der eigensinnige lutherische Pazifist nicht, der eigenen Deutung weit mehr Freiraum zu gewähren. Auch beschränkte sich Schrempf nicht auf die Erstellung der noch fehlenden Bände, sondern überarbeitete die von Gottsched herausgegebenen und fügte der Gesamtausgabe zwei weitere Bände an. Sie enthalten Kierkegaards „Erbauliche Reden“ und erschienen 1924 und 1929. Außerdem fügte Schrempf noch eine eigene Monographie hinzu, „Sören Kierkegaard. Sein Leben und sein Werk (1927/1928)“.