Ernst Bloch (Teil 1)
von virOblationis
Die Eltern Ernst Blochs entstammten dem pfälzischen Judentum. Der fleißige, strebsame Vater begann als Eisenbahnarbeiter, stieg zum Beamten auf und war zuletzt als Oberbahninspektor der königlich-bayrischen Pfalzbahn tätig; sein Vorname lautete eigentlich Markus, doch nach dem in Bayern durch die Herrschaft zweier Könige verbreiteten Namen Maximilian* nannte er sich Max Bloch**. Ernst Blochs Mutter, Barbara Bloch, geb. Feitel,*** war laut der knappen Beschreibung ihres einzigen Kindes, des Sohnes Ernst, eine nervöse Person. Ihn brachte sie im Sommer 1885 zur Welt. Seit ihrer Heirat (1883) lebten die Eheleute Bloch in Ludwigshafen, anfangs in recht beengten Verhältnissen.
* Maximilian I. (1799 – 1825; seit 1806 König) und Maximilian II. (1848 – 1864)
** geb. 1853, gest. 1926
*** geb. 1861, gest. 1935
Max und Barbara Bloch legten kaum Wert auf ihre Herkunft und die religiöse Überlieferung, wenn sie auch der örtlichen Synagogengemeinde angehörten. Ernst Bloch verstand sich später nicht etwa als jüdischer Philosoph, sondern sah sich eher in christlicher Tradition. – Allerdings machte er später auch einmal die Bemerkung, er sei kein kommunistischer, sondern ein anarchistischer Philosoph: Offenbar zielte Bloch mit solchen Äußerungen darauf ab, sich vom Judentum und dem Marxismus-Leninismus zu distanzieren, ohne sich ausschließlich als christlich-anarchistischer Philosoph zu verstehen.
Ernst Bloch wußte die Leistungen seiner Eltern, die ihm den Besuch des Gymnasiums ermöglichten, kaum recht zu schätzen; wenn er sich später in Ludwigshafen aufhielt, besuchte er die Eltern zwar, wohnte aber bei einem ehemaligen Klassenkameraden, mit dem er Freundschaft geschlossen hatte. Das Verhältnis zu den Eltern hingegen war distanziert; schon als Kind verhielt sich Ernst Bloch zu Hause wie in der Schule aufsässig; eine Klasse, die neunte, die Obertertia, mußte er wiederholen. Zu den Mitschülern hatte Ernst Bloch kein gutes Verhältnis; die einzige Ausnahme bildete der schon erwähnte Klassenkamerad ebenfalls jüdischer Herkunft, der allerdings nicht „sitzen“ blieb und sein Abitur ein Jahr früher ablegte als Ernst Bloch.
Von der Arbeiterstadt Ludwigshafen aus blickte der junge Ernst Bloch sehnsuchtsvoll über den Rhein zum kulturell weit bedeutenderen Mannheim am gegenüberliegenden Ufer mit der Schloßbibliothek und dem Nationaltheater, in dem Schillers Drama „Die Räuber“ 1782 uraufgeführt worden war.* In „Das Prinzip Hoffnung Bd. 3 (1959)“ heißt es: „Von früh auf will man zu sich. Aber wir wissen nicht, wer wir sind. Nur daß keiner ist, was er sein möchte oder könnte, scheint klar. Von daher der gemeine Neid, nämlich auf diejenigen, die zu haben, ja zu sein scheinen, was einem zukommt.“** – Nach dem Abitur 1905 verließ Ernst Bloch das Elternhaus. Er studierte Philosophie, zuerst in München, später in Würzburg. Dort erreichte Ernst Bloch 1908 den Abschluß mit einer Promotion über Probleme moderner Erkenntnistheorie am Beispiel des zu jener Zeit in Freiburg lehrenden Neukantianers Heinrich Rickert***; der Plan einer Habilitation scheiterte.
* Die Schloßbibliothek wurde 1943 durch britische Fliegerbomben zerstört, das Theater ebenfalls, und zwar während einer Aufführung des „Freischütz“ . – Friedrich von Schiller; geb. 1759, gest. 1805; geadelt 1802
** Fünfter Teil (Identität), Wunschbilder des erfüllten Augenblicks (Moral, Musik, Todesbilder, Religion, Morgenland Natur, Höchstes Gut), 43. Nicht im Reinen mit sich
*** geb. 1863, gest. 1936
Bloch lebte danach als freier Schriftsteller und Privatlehrer, zuerst in Berlin, wo er Zugang zu dem privaten Gesprächskreis Georg Simmels* fand. Dort befreundete er sich mit dem gleichaltrigen Georg Lukacs**, einem Literaturwissenschaftler jüdisch-ungarischer Herkunft, der damals ebenfalls noch kein Marxist war, sondern Neukantianer. Bloch hingegen orientierte sich nicht so sehr an der zeitgenössischen Philosophie; er suchte an die philosophische Überlieferung anzuknüpfen, was Lukacs nachhaltig beeindruckte. – Während eines Aufenthaltes in München lernte Bloch die aus Riga stammende baltendeutsche Bildhauerin Elsa von Stritzky*** kennen, eine Protestantin; sie persönlich zog die Namensvariante „Else“ vor.
* geb. 1858, gest. 1918; Philosoph und Soziologe
** ungar. György Lukács; geb. 1885, gest. 1971
*** geb. 1883, gest. 1921
1911 zog Ernst Bloch zusammen mit der vermögenden Else von Stritzky nach Garmisch. Ab 1912 lebten sie in Heidelberg, wo Bloch seinen Freund Lukacs wiedersah. Dort schloß auch Bloch sich dem Kreis Intellektueller um den Soziologen Max Weber* an. – 1913 heirateten Ernst Bloch und die dreißigjährige, bereits schwerkranke Else von Stritzky, wobei Bloch entschlossen war, sich dadurch nicht von erotischen Abenteuern abhalten zu lassen, wie er brieflich gegenüber einem Freund bekannte. Auf Grund der operativen Entfernung der Gebärmutter vermochte Else keine Kinder zu bekommen; der Grund dafür dürfte eine Krebserkrankung** gewesen sein. Die unterschiedliche konfessionelle Herkunft scheint in den Augen beider Eheleute nicht von Bedeutung gewesen zu sein.
* geb. 1864, gest. 1920
** möglicherweise ein Zervixkarzinom
Nun lieh sich Ernst Bloch Geld von Georg Lukacs, das er als Jungverheirateter für seine neue Wohnungseinrichtung verbrauchte, und er machte keine Anstalten, es zurückzuzahlen, obwohl er auch von der Familie seiner Ehefrau, denen eine Brauerei gehörte, finanziell unterstützt wurde. Das Verhalten Blochs führte zum Zerwürfnis mit Lukacs. – 1914 verließ Bloch Heidelberg mit seiner Ehefrau und zog nach Grünwald bei München um; durch Briefe hielt er den Kontakt zu Lukacs noch bis 1917 aufrecht. Erst in Wien trafen beide 1929 wieder persönlich zusammen; es herrschte keine allzu freundschaftliche Atmosphäre zwischen ihnen.
Während des 1. Weltkrieges (1914 – 1918), wurde Bloch nicht sogleich zum Militär eingezogen; wahrscheinlich war er wegen Kurzsichtigkeit zurückgestellt worden, wobei ihm – wie auch Georg Lukacs – der mit Max Weber befreundete Philosoph und Mediziner Karl Jaspers* behilflich war. Womöglich wäre Bloch schließlich doch noch eingezogen worden; außerdem verringerte sich die Unterstützung aus Riga mittlerweile wegen des Krieges immer mehr. So setzte sich Bloch 1917 zusammen mit seiner Ehefrau in die Schweiz ab, in die er zu Studienzwecken ausreisen durfte. Unter den für ihn und seine oft kranke Ehefrau ungewohnt dürftigen Lebensbedingungen veröffentlichte Bloch ein Werk, das er seiner Gattin widmete, die seiner Philosophie rückhaltlos zustimmte, vielleicht besonders dem metaphysischen Aspekt, der ihr angesichts des nicht fernen Todes eine Perspektive eröffnete: „Geist der Utopie“. Dieses Buch sollte später größte Bekanntheit erlangen. Es erschien nach dem Ende des Krieges, noch im Jahre 1918 in dem traditionsreichen deutschen Verlag Duncker und Humblot, der im 19. Jahrhundert bereits Hegels** Werke herausgegeben hatte.***
* geb. 1883, gest. 1969
** Georg Wilhelm Friedrich Hegel; geb. 1770, gest. 1831
*** 1923 erschien Blochs „Geist der Utopie“ in einer zweiten, bearbeiteten Auflage. Die dritte Fassung von 1964 entstand im Rahmen der Gesamtausgabe.
Bloch meditiert über die Jugend und den närrisch Gewordenen, beides minder rational kontrollierte Zustände des Geistes, darstellende Kunst, Drama und Musik, und Bloch unternimmt dies in manchmal peinlich mit Bildungsgütervokabeln überladenen Sätzen, die auch noch assoziativ aneinandergefügt sein können; manchmal formuliert er unpräzise oder sogar schräg, so daß nicht immer ganz klar wird, was gemeint ist. Doch es wird dabei deutlich, wie sich auch noch im Bemühen um Objektivität das begehrende Ich zu Wort meldet. Jede Beschreibung der Realität, die sich nicht in abstarkten Umrissen oder Formeln erschöpft, auch und gerade die des Künstlers, bringt nicht allein zum Ausdruck, wie die Wirklichkeit jetzt beschaffen ist oder wie sie früher einmal war, sondern zeugt zugleich auch davon, wie der Betreffende sie gern hätte. Dies aufgespürt zu haben, ist gewiß eine sehr verdienstvolle Entdeckung, die Bloch gelungen ist. – Mit Bezug auf seine Biographie könnte man auch sagen: Der Blick über den Rhein informierte den jungen Bloch nicht nur über das Aussehen der Stadt am gegenüberliegenden Ufer, sondern war Ausdruck seiner Sehnsucht, in Mannheim anstatt Ludwigshafen zu leben.
Bloch stellt das Irrationale in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, genauer das unreflektierte Verlangen, also auch den Traum. Da der Nachttraum jedoch nur allzu oft dadurch gekennzeichnet ist, daß sich seine Inhalte auch bei Aufbietung größter Phantasie nicht verwirklichen lassen, gibt Bloch inkonsequenter Weise dem schon halb-rationalen Wachtraum den Vorzug. – Wenn die Ausführungen Blochs dazu den Lesern verlockend erscheinen, besteht der Grund darin, daß sie zunächst jedem alles zu versprechen scheinen.
Das „Dunkel des gelebten Augenblicks“, den Moment vor dem Einsetzen der Selbstreflexion, sieht Bloch als das eigentlich Authentische im menschlichen Leben an. Die Vernunft soll das daraus entspringende Verlangen nicht beurteilen, sondern ihm dazu verhelfen, ans Ziel zu gelangen; die Vernunft steht damit im Dienste des Unbewußten und seiner Begierden; auf diese Weise unterscheidet Bloch den Menschen vom Tier, dem kein Verstand zur Verfügung steht.
Um aber mehr zu sein als reines Wunschdenken, bedarf es der Begründung, warum denn das bloße Begehren die Verheißung der Erfüllung in sich tragen soll. Die Antwort findet Bloch im Verweis auf den Marxismus. Dies gelingt Bloch dadurch, daß er den Inhalt jedes Wunschtraumes als geschichtlich realisierbar ausgibt: Die klassenlose, durch den Marxismus heraufgeführte Gesellschaft soll alles einlösen; Wünsche, wie realistisch auch immer, werden damit zur ernsthaften Utopie erklärt. Aus dem „nicht“ wird ein „noch nicht“, aus dem „Unbewußten“ das „Vorbewußte“. – Aber damit wird zugleich alles, was dem Marxismus widerspricht, der Utopie entgegengesetzt; es steht als zu überwindender Widerspruch dar. Danach versteht sich Blochs Utopie als Kritik der bestehenden Verhältnisse.
Allerdings scheint Bloch erst während der Abfassung des Buches 1915 bis 1917 zu dieser Antwort gefunden zu haben. In den ersten beiden Kapiteln kommt Marx noch nicht vor, und im dritten Kapitel des Hauptteils von „Geist der Utopie“ findet sich ein einziges Mal ein versprengtes, wohl nachgetragenes „marxistisch“. Im vierten Kapitel wird einmal ein „Marx“ erwähnt, doch damit ist ein Beethoven-Biograph gemeint, und demnach kann es sich nur um Adolph Bernhard Marx* handeln. Erst im fünften Kapitel wird Marx einmal mit Bezug auf den Sozialismus und die russische [Oktober]revolution genannt, drei Mal mit Bezug auf Hegel. Dieses fünfte Kapitel „Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit“ paßt nicht zum Vorangehenden, sondern wirkt wie ein älterer, nach der russischen Oktoberrevolution (1917) überarbeiteter Essay mit eigenständiger Thematik, der eingeschoben worden ist, um auch ihn noch zu verwerten; zwar behauptet Bloch, das Manuscript des Buches sei im Mai 1917 von ihm abgeschlossen worden, doch der – vielleicht beim Korrekturlesen erweiterte – Text blickt an einer Stelle eindeutig auf die Oktoberrevolution zurück.** Dieses fünfte Kapitel setzt sich in vier Abschnitten mit philosophischen Strömungen und ihrer Vorgeschichte bis hin zu Kant*** auseinander: „Fast alles in uns ist schon irgendwie bei Kant vorgedacht…“**** Dies mündet in einem offenbar nachträglich angefügten fünften Abschnitt in die Mahnung, das Preußische zu überwinden, um zum wahrhaft Deutschen zurückzukehren, das im Einklang mit dem Sozialismus und den westlichen Demokratien stehe. Der fünfte Abschnitt endet mit einem Exkurs, der das Geschichtliche mit dem Utopischen verknüpft und so das gesamte fünfte Kapitel wohl mit dem Rest des Buches vereinen soll.
* geb. 1795, gest. 1866
** „Karl Marx, der Sozialismus als Wissenschaft, die alte deutsche Philosophie, alle die an der russischen Grenze vordem so sicher der Zensur verfallenen Bücher, das System der organisierten Freiheit, den Prätorianern gegeben, die jetzt in der russischen Revolution zum ersten Mal Christus als Kaiser einsetzen?“ 5. Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit, 5. Beschluß, Programm und Problem
*** Immanuel Kant; geb. 1724, gest. 1804
**** 5. Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit, 4. Innerlichkeit und System
Das abschließende sechste Kapitel des Hauptteils von „Geist der Utopie“ behandelt die Frage des Subjekts nach sich selbst: „So bleibt als letztes Ziel: die Frage nach uns zu fassen, rein als Frage, nicht als Hinweis auf die Lösung; die ausgesagte, aber unkonstruierte, unkonstruierbare Frage selber als Antwort auf die Frage.“* – Bloch, der sich nicht von der allen Menschen gemeinsamen Natur, sondern von seinen ganz ihm eigenen Wünschen her zu verstehen suchte, blieb sich selbst offenbar von Kindheit an rätselhaft, und dies übertrug er auf alle übrigen Menschen: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst. Das Bin ist innen. Alles Innen ist an sich dunkel. Um sich zu sehen und gar was um es ist, muß es aus sich heraus.“** Ganz ähnlich heißt es im dritten Band von „Das Prinzip Hoffnung“: „Von früh auf will man zu sich. Aber wir wissen nicht, wer wir sind.“***
* Geist der Utopie (1918), 6. Die Gestalt der unkonstruierbaren Frage
** Tübinger Einleitung zur Philosophie (1970)
*** Fünfter Teil (Identität), Wunschbilder des erfüllten Augenblicks (Moral, Musik, Todesbilder, Religion, Morgenland Natur, Höchstes Gut), 43. Nicht im Reinen mit sich
Das abschließende sechste Kapitel des Hauptteils behandelt außerdem religionsphilosophische Erwägungen, die darauf abzielen, den Gehalt der biblischen Eschatologie als Utopie zur innergeschichtlichen Hoffnung zu verdiesseitigen. Im Zuge dieses Gedankengangs könnte Bloch zur saecularisierten Eschatologie des Marxismus gefunden haben.
Von Marx* spricht ein wenig öfter erst ein an den Hauptteil „Die Selbstbegegnung“ angefügter Schlußabschnitt; schon im Titel wird Marx genannt: „Karl Marx, der Tod und die Apokalypse“. – So recht marxistisch denkt Bloch aber noch nicht, da er schreibt, daß „der Staat selbständig geworden ist, selbständig bis zum Selbstzweck“ und „aus den unternehmerischen Interessen, als deren geschäftsführender Ausschuß sich der kapitalistische Staatsgedanke fühlen konnte, herausgefallen ist“.** Ferner sei „die ökonomische Lage für a l l e Klassen unerträglich geworden“.*** – Zwischendurch streut Bloch aber schon einmal eine Bemerkung von der „Expropriation der Expropriateure“**** ein: So arbeitet er sich gedanklich an Marx heran.
* geb. 1818, gest. 1883
** Karl Marx, der Tod und die Apokalypse – kursiv von mir, vO
*** Karl Marx, der Tod und die Apokalypse – gesperrt gedruckt im Original
**** Karl Marx, der Tod und die Apokalypse – eine geläufige Wendung, die auf den Satz „Die Expropriateurs werden expropriiert.“ aus dem 24. Kapitel des ersten Bandes des „Kapitals (1867)“ von Karl Marx zurückgeht.
Was habe ich von der Zukunft, wenn ich sie nicht erlebe? – Die Antwort auf diese Frage findet sich ebenfalls in dem angefügten Schlußabschnitt „Karl Marx, der Tod und die Apokalypse“. Bloch findet sie im Glauben an die Unvergänglichkeit der menschlichen Person: „Hier liegt ein Keim, der unzerstörbar ist, eben das verhüllte Ich.“* „Was wir sterben nennen, bedeutet, daß es uns erlaubt ist aufzusteigen. … Man kann daher entweder annehmen, daß wir gänzlich abgetrennt [und dadurch in das überirdische, gemeinsame Dasein allen Lebens als „Seelengott oder heilige[r] Geist“ aufgehoben] werden und nie zurückkehren können oder daß uns das junge Leben, das [irdische] Leben von vorne an, immer wieder von neuem gewährt wird.“** Auf Erden, in irdischer Existenz sind alle Lebewesen dazu da, um als „Organe jenes kosmischen Selbsterkenntnisprozesses“*** gebraucht zu werden, der diesseitig betrachtet als Weltgeschichte erscheint.
* Karl Marx, der Tod und die Apokalypse, Tod, Seelenwanderung, Apokalypse oder das Problem der echten sozialen und kulturellen Ideologie
** Karl Marx, der Tod und die Apokalypse, Tod, Seelenwanderung, Apokalypse oder das Problem der echten sozialen und kulturellen Ideologie – Zitat im Zitat: ebd.
*** ebd.
Diese heidnisch-neuplatonisch fundierte, origenistische Terminologie verwendende und wegen der Rede von einem Selbsterkenntnisprozeß an die Philosophie des jungen Schelling erinnernde Metaphysik* ließ Bloch später fallen, soweit sie sich nicht verdiesseitigen ließ, paßte sie doch gar zu schlecht zum Marxismus, dem Bloch sich verschrieb. In saecularisierter Form begegnet später noch der Selbsterkenntnisprozeß allen Lebens: „Indem nämlich der unverfälschte Marx ein allzu sicheres Vorbild des roten Intelligenzweges darstellt: es ist die sich tätig begreifende Menschlichkeit.“** Auffällig ist an diesem Satz, daß abstrakt von Menschlichkeit gesprochen wird, nicht vom Menschen oder dessen Werktätigkeit. Engels hatte die „Arbeit“ zur „erste[n] Grundbedingung alles menschlichen Lebens“ erklärt, durch die der Mensch immer besser lernt, die „Natur [zu] erkennen“, was schließlich dazu führe, daß sich „die Menschen wieder als Eins mit der Natur nicht nur fühlen, sondern auch wissen“.*** – Die Schlußsätze von „Das Prinzip Hoffnung“ hat Bloch sorgfältiger marxistisch formuliert: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Sein ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet…“****
* Heiliger Geist, pneuma hagion, heißt bei Origenes (geb. ca. 185, gest. wohl 254) die Gesamtheit der Vernunftsgeistwesen, also die der Menschenseelen (sowie der Engel). – Friedrich Wilhelm Josef Ritter von Schelling; geb. 1775, gest. 1854; geadelt 1812; s. dazu den Artikel über Karl Jaspers.
** Das Prinzip Hoffnung Bd. 3 (1959), Fünfter Teil (Identität), Wunschbilder des erfüllten Augenblicks (Moral, Musik, Todesbilder, Religion, Morgenland Natur, Höchstes Gut), 55. Karl Marx und die Menschlichkeit; Stoff der Hoffnung
*** Friedrich Engels; geb. 1820, gest. 1895; hier: „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“, verfaßt wohl 1876, erstmals veröffentlicht 1896
**** Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3 (1959), Fünfter Teil (Identität), Wunschbilder des erfüllten Augenblicks (Moral, Musik, Todesbilder, Religion, Morgenland Natur, Höchstes Gut), 55. Karl Marx und die Menschlichkeit; Stoff der Hoffnung
Der Gedanke scheint plausibel, daß Bloch zuerst seine Metaphysik entwickelte, sich dann mit dem Marxismus auseinandersetzte und diesem den Vorzug gab, nachdem die Oktoberrevolution ihn staatlich etabliert hatte. Hätten sich Blochs Hoffnungen also zuvor nur nach „oben“ gerichtet, so hätte er sie ergänzt durch die Erwartung einer innergeschichtlichen Erlösung; so der Stand im „Geist der Utopie“. Später gab Bloch die Metaphysik preis. Nicht mehr sie sollte die Erfüllung der irrationalen Wünsche garantieren, sondern der Marxismus allein. Was Bloch vom 1. Weltkrieg als dem Ende der kapitalistischen „Geldwirtschaft“ schreibt, scheint viel eher auf seinen persönlichen Werdegang zuzutreffen: „…der Krieg mit seinen Folgen ist eine Wasserscheide und ein furchtbarer Gebirgsstock…“*, eine Grenzlinie also, jenseits der alles anders ist.
* Karl Marx, der Tod und die Apokalypse
Das ist die Grundstruktur der Philosophie, die Bloch seit dem Ende des 1. Weltkriegs vertrat. Später ist sie in dem während des Exils in den USA (1938 – 1949) verfaßten und später (1953 und 1959) noch einmal überarbeiteten Opus magnum Blochs, „Das Prinzip Hoffnung (1954 / 1955 / 1959)“, auf drei Bände ausgewalzt worden. Da Blochs Philosophie ohne Metaphysik keinen Anteil an der Erfüllung durch Wiedergeburt oder Eingehen in ein jenseitiges Gesamt allen Lebens zu verheißen vermag, bietet sie als Ersatz den erfüllten Augenblick an, in welchem das Künftige schon vorweg zuteil werde, wenn auch unvollkommen, nämlich nicht auf Dauer. In einem Bilde ausgedrückt: Der hehre Dulder erreicht seine Heimat Ithaka; doch damit ist die Geschichte nicht zu Ende, denn Dante dichtete sie weiter, und unter Verweis auf Dantes Fortsetzung der Sage mit einer Fahrt ohne Wiederkehr, die Odysseus über die Säulen des Hercules*, Gibraltar, hinaus in den Südatlantik geführt habe,** schreibt Bloch: „Das ,Verweile doch, du bist so schön‘, zum Augenblick gesagt, bezeichnet die Da-Seins-Utopie katexochen. … Verweile doch, zum Augenblick gesagt, wird derart Sinnbild der richtigen, ganz immanenten Heimkehr, des wirklichen Ithaka. … Aber wenn ein umhergetriebener Hausvater Odysseus heißt oder ähnlich, wird die Rückkehr nicht so klar, oder daß mit dem eigenen Bett alles fertig sei. …er fährt weiter aus, ins Unermessene…*** „Das Bäumchen, das andere Blätter hat gewollt, hätte auch bei goldenen keinen Halt gemacht.“****
* griech. Herakles
** Dante Alighieri; geb. 1265, gest. 1321; La divina Commedia, Die Göttliche Komödie, Inf. (Hölle) XXVI, 55 – XXVII, 3
*** Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3 (1959), Fünfter Teil (Identität), Wunschbilder des erfüllten Augenblicks (Moral, Musik, Todesbilder, Religion, Morgenland Natur, Höchstes Gut), 49. Leitfiguren der Grenzüberschreitung; Faust und die Wette um den erfüllten Augenblick – kursiv im Original
**** Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3 (1959), Fünfter Teil (Identität), Wunschbilder des erfüllten Augenblicks (Moral, Musik, Todesbilder, Religion, Morgenland Natur, Höchstes Gut), 54. Der letzte Wunschinhalt und das höchste Gut
„Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Sein ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“* Den Menschen aller Zeiten wird sozusagen derselbe erfüllte Augenblick geschenkt, obwohl ihre Wünsche nach Bloch, der die Existenz einer menschlichen Natur leugnet und sogar ihre Triebe dem geschichtlichen Wandel unterworfen sieht. Schließlich soll die klassenlose Gesellschaft alle Utopie verwirklichen, obwohl sie als Wünsche ganz verschiedenen Regungen entsprungen sind. Daher paßt die geschichtliche Bedingtheit aller Utopien samt der Leugnung der immer gleichen menschlichen Natur schlecht zu Blochs Philosophie. Er selbst widerspricht dem von ihm behaupteten Relativismus, indem er das Streben nach Selbsterhaltung, ohne das es keine Wünsche gäbe, denn doch als „einzige[n] Grundtrieb unter mehreren, der diesen Namen verläßlich verdient“, charakterisiert. „,Suum esse conservare‘, sich an seinem Sein erhalten, das ist und bleibt aber nach Spinozas** unbestechlicher Definition der ,appetitus‘ aller Wesen.“***
* Die Schlußsätze des dreibändigen Werkes; Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3 (1959), Fünfter Teil (Identität), Wunschbilder des erfüllten Augenblicks (Moral, Musik, Todesbilder, Religion, Morgenland Natur, Höchstes Gut), 55. Karl Marx und die Menschlichkeit; Stoff der Hoffnung – Übrigens heißt es im „Geist der Utopie (1918)“ bereits, „daß auch hier (sc. im Traum, der mehr ist als ein Widerschein von Tageserlebnissen) ein Wiedererinnern, ein sich Zurückfinden in die Heimat wirksam ist, aber eben in eine Heimat, in der man noch niemals war und die dennoch Heimat ist.“ 4. Philosophie der Musik, Indirekte Beziehungen des Kontrapunkts, Das Bachsche und das Beethovensche Kontrapunktieren
** Benedict bzw. Baruch de Spinoza, hebr. Baruk Sep(h)inoza; geb. 1632, gest. 1677; „suum esse conservare“, sein [eigenes] Sein bewahren
*** Das Prinzip Hoffnung Bd. 1 (1954), Zweiter Teil (Grundlegung), 13. Die geschichtliche Begrenztheit aller Grundtriebe; verschiedene Lagen des Selbstinteresses; gefüllte und Erwartungs-Affekte
[…] Ernst Bloch (Teil 1) […]