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Ernst Bloch (Teil 2)

von virOblationis

Der auf die Ökonomie konzentrierte Marxismus, den Bloch vorfand, befriedigte ihn nicht recht, da der Marxismus doch die Erfüllung aller irrationalen Wünsche verheißen sollte. Daher wollte Bloch die „transzendentalen Elemente“ des Marxismus zu Tage fördern, was diesen „in die Nähe einer Kritik der reinen Vernunft rückt[e], zu der noch keine Kritik der praktischen Vernunft geschrieben worden ist.“* – Ein typischer Bloch-Satz, der anspruchsvoll klingt, aber nicht viel Sinn macht. Er scheint den Marxismus in die Nähe der reinen Vernunft im Sinne Kants zu versetzen und verheißt zugleich eine vervollständigende Erweiterung des Marxismus in praktischer Hinsicht. Doch dessen Praxis ist nicht beliebig veränderbar; inwiefern sollte sie erweitert oder gar korrigiert werden? Etwa durch Blochs Begierden, von denen noch zu sprechen sein wird?

* Geist der Utopie (1918), Karl Marx, der Tod und die Apokalypse

In „Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1 (1954)“*, spricht Bloch vom „Kältestrom“ im Marxismus, zu dem er einen „Wärmestrom“ hinzuphantasiert; die Metaphysik hat Bloch aufgegeben und sucht folglich nach Begründung seiner Hoffnungen in der Materie, wozu er an einen pantheistisch interpretierten Aristoteles** anzuknüpfen vorgibt, beschwörend, nur scheinbar begründend, da das, was aus Notwendigkeit geschieht, griechisch to ex anankes, bei Aristoteles nicht, wie Bloch meint, als kata to dynaton, nach Möglichkeit [bzw. soweit wie möglich], eine Form des Möglichen – neben dem to dynamei on, in Möglichkeit Seienden [im Gegensatz zum (Ver)wirklich(t)en], – bildet, sondern alles andere, also jegliche Veränderung und damit die Möglichkeit, ausschließt. Die Notwendigkeit ist nach Aristoteles das nicht anders Seinkönnende, to me endechomenon allos echein, das nicht Hinnehmende, andere [Zustände] zu haben, und damit ewig, griechisch aei; die Notwendigkeit steht also im Gegensatz zur Materie, die sich nach Aristoteles gerade durch Veränderbarkeit auszeichnet; sie ist das Mögliche, dynamis (lateinisch potentia), und im Gegensatz dazu steht das (Ver)wirklich(t)e, energeia (lateinisch actus).***

* Zweiter Teil (Grundlegung), 17. Die Welt, worin utopische Phantasie ein Korrelat hat; reale Möglichkeit, die Kategorien Front, Novum, Ultimum und der Horizont

** geb. 384, gest. 322 v. Chr.

*** Der Grund dafür besteht darin, daß Bloch einen nicht-aristotelischen Begriff der Natur (und Notwendigkeit) mit dem der Materie gleichsetzt und diesen wiederum Aristoteles unterstellt.

In diesem Zusammenhang identifiziert Bloch offenbar, ohne es ausdrücklich zu erwähnen, im Rückgriff auf die aristotelische Lehre von der vierfältigen Ursache* die – mit der Entelechie, dem Verhalten jedes Dinges gemäß der ihm durch seine immaterielle Form einwohnenden Bestimmung,** gleichgesetzte – Formursache und die Wirkursache. – Die Identifizierung von Form(ursache) und Entelechie ist durchaus möglich und ist auch ausdrücklich vorgenommen worden durch Priscian von Lydien***, einen der sieben heidnischen Neuplatoniker, die wegen der Schließung ihrer Athener Akademie (529) durch Kaiser Justinian**** 531 ins neupersische Großreich auswanderten und bereits 533 zurückkehrten. Die Identifizierung von Form- und Wirkursache hingegen erscheint zwar auf den ersten Blick abwegig, doch wäre es nicht unmöglich für einen (spät)antiken (Neu)platoniker, sie in bezug auf den Menschen zu behaupten, wenn er die Seele des Menschen einerseits in aristotelischer Tradition als Form(ursache) des Leibes auffaßt und sie andererseits in platonischer Tradition als Prinzip aller Bewegung versteht, wobei die Bewegung hier umgedeutet wäre in eine Hervorbringung von etwas, also in die Wirkursache. Tatsächlich unterscheidet der bereits erwähnte Priscianus Lydus nachdrücklich zwischen dem vernunfthaften Aspekt der menschlichen Seele, dem Nous, und den übrigen Seelenteilen. Die mit der Form(ursache) des Leibes von Priscian identifizierte Entelechie im eigentlichen Sinne erblickt er in dem vom Leibe unabhängigen und vollständig wirklichen Nous; die übrige, nicht vollständig wirkliche, sondern teilweise in der Möglichkeit befindliche Seele, entsprechend derjenigen nicht-menschlicher Leibwesen, bildet nach Priscian die Entelechie nur in fernerem Sinne. Letztere ermöglicht Sinneswahrnehmung, und ihre Aufgabe besteht vor allem in der Selbstbewegung des betreffenden Leibwesens; hinzu kommen Ernährung, Wachstum und Vermehrung. Diesen beseelten Organismus wiederum benutzt der menschliche Nous, die Entelechie im eigentlichen Sinne, als sein Werkzeug für den von ihm verfolgten Zweck. Wenn man nun als Wirkursache das einzelne Lebewesen ansieht, beim Menschen die Person, nicht deren artspezifische Form, die Priscian jedoch – als Kind seiner Zeit und des Heidentums – nicht ausreichend von der Person zu unterscheiden scheint, da er die Person mit der gesamten Seele des Menschen gleichsetzt, deren niedere Teile mit dem Leib verbunden sind, der Nous aber mit dem überpersönlichen, göttlichen Geist, dann wäre die Form im Falle des Menschen sowie der übrigen Lebewesen quasi zur Wirkursache geworden.

* Die Zweckursache (latein. causa finalis) unterscheidet Aristoteles von der Wirkursache (latein. causa efficiens), die etwas hervorbringt mittels Formursache (latein. causa formalis) und Stoffursache (latein. causa materialis). So bringt, damit eine Opferhandlung (Zweck) durchgeführt werden kann, der Kunstschmied (Wirkursache) eine Schale (Form) aus Silber (Materie) hervor.

** Im obigen Beispiel: Die Entelechie meint dort die Verwendung der Schale bei Opferhandlungen.

*** griech. Priskianos; erste Hälfte des 6. Jahrhunderts n. Chr.

**** 527 – 565

Bloch identifiziert also Entelechie und Wirkursache, und daneben führt er auf die Materialursache nicht nur mit Aristoteles die Individualität jedes (artspezifischen) Dinges zurück, sondern auch dessen Zurückbleiben hinter der Form, „demgemäß die entelechetische Tendenzgestalt sich nicht rein ausprägen kann.“* Dazu verweist Bloch darauf, daß die Materie der o.g. Notwendigkeit unterliege; die Materie erscheint damit als Ursache des Unvollkommenen, der nur bruchstückhaften Erfüllung der irrationalen Wünsche und Begierden. – Man kommt kaum umhin, dabei an den neuplatonischen Begriff des Schlechten zu denken, das nicht als Gegensatz zum Guten verstanden wird, sondern als dessen Unvollständigkeit, privatio boni, Mangel an Gutem. – Die Verknüpfung von (vernunftloser) Natur und Notwendigkeit ist in der Stoa verwurzelt, doch wertet der materialistische Stoizismus die Natur darum keineswegs ab, sondern versteht sie als sinnlich wahrnehmbaren Ausdruck all dessen, was die göttliche Vernunft schafft und leitet; eine Lehre von der Materie als Ursache des Schlechten in der Welt läßt sich hingegen bei verschiedenen heidnischen Mittel- und Neuplatonikern finden.

* Zweiter Teil (Grundlegung), 17. Die Welt, worin utopische Phantasie ein Korrelat hat; reale Möglichkeit, die Kategorien Front, Novum, Ultimum und der Horizont

Bei Aristoteles wird die Materie mit der Möglichkeit im Sinne der Veränderbarkeit unauflöslich verbunden gedacht und diese dynamis (lateinisch potentia passiva) genannt; andererseits bezeichnet Aristoteles aber auch beim Gegenstück der Materie, der immateriellen Form, die Kraft zur Hervorbringung von Veränderungen als dynamis (lateinisch potentia activa). Es geht dabei jedoch nicht um Veränderung durch ursächliche Wirksamkeit, also die Wirkursache, sondern um den Übergang von der bloßen Möglichkeit, dynamis (hier: potentia passiva), zur Tatsächlichkeit, energeia, mittels dynamis (hier: potentia activa), und zwar als individuelle Ausprägung einer artspezifischen Form durch Materie.* Bloch mißversteht die Kraft zur Hervorbringung solcher Veränderungen offenbar als Wirkursache und identifiziert dynamis in diesem Sinne mit dynamis als der Materie eigene Möglichkeit der Veränderbarkeit, obwohl beides nur gleichlautend, aber gegensätzlich in der Bedeutung ist, was Bloch allerdings gar nicht bewußt zu sein scheint. Er schreibt beide Aspekte von dynamis der Materie zu und gelangt so zu einem in sich widersprüchlichen Begriff von Materie, da sie einerseits die wirkursächliche [geistige] Kraft zur Veränderung und gleichzeitig die Eigenschaft der Veränderbarkeit aufweisen soll.** „Materie ist…also der – bei Aristoteles freilich noch passiv[ verstanden]e – Schoß der Fruchtbarkeit, dem auf unerschöpfte Weise alle Weltgestalten entsteigen. … das utopische Totum ist im dynamei on [bzw. in (der Materie als) dem in Möglichkeit Seienden] impliziert.“***

* Im obigen Beispiel: Dem Silber ist es möglich, z.B. die Form einer Schale anzunehmen, und die immaterielle Form der Schale läßt dies wirklich werden. (Als Wirkursache dient dabei der Kunstschmied.)

** Der Materialismus sieht sich genötigt die Existenz der immateriellen Form zu leugnen und die Wirkursache – die Bloch als Kraft zur Hervorbringung von Veränderung an die Stelle der Form bzw. der Entelechie setzt – der Materie zuzuschreiben; insofern verfährt Bloch konsequent. – Ein ebensolcher widersprüchlicher Begriff von Materie wie bei Bloch taucht dort auf, wo man der Materie die Fähigkeit zuschreibt, sich selbst zu organisieren. Um ihn zu glätten, schreibt man der Materie die Eigenschaft zu, sich [ohne Beweger] beständig in Bewegung zu befinden (potentia activa) und dadurch immerfort verändert zu werden (potentia passiva); die Selbstorganisation wird dann im Sinne eines sich daraus zufällig ergebenden Resultates verstanden: Jede Finalität, alles Zweckgerichtete muß zusammen mit dem Geistigen geleugnet werden. Übrigens greift man mit einer Erklärung durch Bewegung und Zufall das materialistische Modell der epicureischen Kosmologie wieder auf.

*** Zweiter Teil (Grundlegung), 17. Die Welt, worin utopische Phantasie ein Korrelat hat; reale Möglichkeit, die Kategorien Front, Novum, Ultimum und der Horizont – kursiv im Original, wo „dynamei on“ in griech. Schrift wiedergegeben ist.

Angesichts all dessen darf man vielleicht vermuten, daß Bloch durch die Lektüre einer Abhandlung über neuplatonischen Aristotelismus, vielleicht bei Priscianus Lydus, zu seinen – teils kryptisch, teils kraus anmutenden – Ausführungen über die aristotelische Philosophie angeregt worden ist. – Der Neuplatonismus enthält als spätantike Synthese verschiedener philosophischer Schulen stets auch einen aristotelischen Anteil. Bloch erkannte diesen anscheinend nicht als solchen, sondern beurteilte ein solches aristotelisches Element offenbar als authentischen Aristotelismus; dazu paßt Blochs Auffassung, bei dem mittelalterlichen jüdischen Neuplatoniker Avicebron bzw. Avencebrol* habe es sich um einen Aristoteliker gehandelt.

* hebr. (Schelomo ben Jehuda) ibn Gabirol; geb. 1021/1022, gest. wohl 1057/1058

Über das Eis des zugefrorenen Sees ist Bloch also endlich ans Ufer gelangt,* das seinem Prinzip Hoffnung eine Begründung verleihen soll. Doch wird damit letztlich nur belegt, wie menschlich verständlich irrationale Wünsche sind; traditionell würde man von Leidenschaften und Begierden sprechen: Ihre Phantasien entquellen nach Bloch der Materie, aus der der Mensch bestehe. Um ihnen Erfüllung zu verheißen, fordert Bloch „Vertrauen auf Mitwirkendes in der Geschichte“**, aber wie will er dies begründen ohne Metaphysik? – Also sinkt zwar nicht der Reiter*** am rettenden Ufer nachträglich zu Tode erschrocken nieder, aber es verendet das Pferd, das nach Verausgabung aller Kraft sein Ziel doch nicht erreicht hat, nämlich die Begründung, warum denn die Wünsche am Ende in Erfüllung gehen sollen, warum der „Wärmestrom“ nicht in der toten Einöde versickern, sondern durch ein Prinzip Hoffnung ins Meer der Erfüllung einmünden soll.

* Anspielung auf Gustav Schwabs (geb. 1792, gest. 1850) Gedicht „Der Reiter und der Bodensee (1826)“

** Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3 (1959), Fünfter Teil (Identität), Wunschbilder des erfüllten Augenblicks (Moral, Musik, Todesbilder, Religion, Morgenland Natur, Höchstes Gut), 47. Leittafeln der Willenstempi und der Betrachtung, der Einsamkeit und der Freundschaft, des Individuums und der Gemeinschaft

*** wie in Schwabs Gedicht

Blochs Formulierungen klären den Leser nicht auf, sondern benutzen Bezugnahmen auf Kulturgüter jeglicher Art, hier: philosophische Werke der Antike, zum Vernebeln des Geistes; Bloch schwafelt, um irrationale Wünsche des Lesers hervorzulocken und ihnen eine Erfüllung vorzugaukeln. Damit soll der Leser auf die Seite Blochs gezogen und zugleich für einen Marxismus gewonnen werden, so wie Bloch ihn versteht. Es gehe darum, mit der klassenlosen Gesellschaft einen geschichtlichen Zustand herzustellen, der alle (ihm entsprechenden*) Utopien verwirkliche und damit zugleich diesseitig einlöse, was Christentum und Judentum – nach Bloch – in überirdische Bilder verkleidet in Wahrheit erhoffen. – Bloch hätte nur noch den „Kältestrom“ ausklammern müssen, die Frage nach den Produktionsverhältnissen, um sich ganz in die entstehende Neue Linke einzugliedern. Sein Beitrag bei ihrer Konstituierung, sah schließlich ganz ähnlich aus wie der Horkheimers, denn auch Bloch lehrte letztlich, das Irrationale und damit Affekte und Triebe der Vernunft überzuordnen.

* Wer wollte schon zugeben, daß seine Wunschträume anderer Art sind und sich damit als Feind des Fortschritts und des wahren Menschseins selbst entlarven?

*

Im „Geist der Utopie“, der laut Blochs Angabe im Frühjahr 1917 vollendet wurde, ist noch kein anti-deutsches Ressentiment zu vernehmen. Es ist dort allein Preußen, wogegen Bloch sich wendet: „…das preußische Gift, das sinnlos zu Tode organisierende, muß aus dem Reich verschwinden.“ Bloch spricht „von Preußen, von dem unruhigen, eroberungssüchtigen, waffenstarrenden Nachbar“ der Völker rings um Deutschland, die von Preußen „fortdauernd bedroht gewesen seien“.*

* 5. Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit, 5. Beschluß, Programm und Problem

Nun schrieb Bloch aber im Schweizer Exil vom Herbst 1917 bis zum Sommer 1919 für die in Bern erscheinende „Freie Zeitung“, deren Erscheinen acht Tage nach dem Kriegseintritt der USA (1917) begann und drei Jahre später endete; dem Blatt sagte man finanzielle Unterstützung aus Frankreich und den USA nach. Bern war damals nicht nur das politische Zentrum der Schweiz, sondern auch der Diplomatie sowie der Spionage, und bei der dortigen „Freien Zeitung“ suchten die verschiedensten Exilanten ihre Artikel unterzubringen. Für „Die Freie Zeitung“ schrieb Ernst Bloch hunderte von Artikeln, während sein Freund Hugo Ball* vom Mitarbeiter zum Verlagsleiter des Blattes aufstieg; andere Autoren der „Freien Zeitung“ waren z.B. Carl von Ossietzky** und Hermann Hesse***.

* geb. 1886, gest. 1927

** geb. 1889, gest. 1938 (nach fünfjährigem KZ-Aufenthalt)

*** geb. 1877, gest. 1962

Bloch vertrat in der „Freien Zeitung“ die Position der Alliierten. Das gesamte Deutschland, nicht allein Preußen, stellte Bloch in seinen Artikeln als das schlechthin Böse dar, weil dort der Krieg „zum staatsnotwendigen und staatsfördernden Prinzip erhoben wurde und es auch weiterhin bleiben soll“. Bloch übernahm die alliierte Kriegspropaganda ungefiltert: „Die Deutschen haben ungeheuren Mord begonnen. Die anderen setzten sich zur Wehr, zur Notwehr.“ Bloch identifizierte die gegen die Mittelmächte Krieg führende „Welt“ mit dem vom „System des Krieges“ herausgeforderten „Pazifismus“, ja – den Sinn des Begriffes verdrehend – mit „der kämpfende[n] Christenheit, ecclesia militans.“ – Das ganze deutsche Volk sei Schuld, denn es „schwieg, ja bejubelte vier Jahre lang die schändlichsten, teuflischsten Taten seiner Regierung“. Die nach dem 2. Weltkrieg verbreitete Kollektivschuldthese taucht bei Bloch also beinahe dreißig Jahre eher schon auf. Selbst die Einzigartigkeit des deutschen Verbrechertums klingt bereits an, wenn Bloch schreibt, daß eine alliierte Niederlage „die Niederlage der Menschheit“ bedeutet hätte und die Forderung erhebt, Deutschland müsse angeklagt und vor ein Weltparlament gestellt werden. Über den „Geist der Utopie“ mit seiner in nur einem einzigen Satz angedeuteten Vision eines von der russischen Revolution gleichsam zum Kaiser erhobenen Christus* hinausgehend bezog Bloch nun auch die USA in seine Vision einer erlösten Welt ein: Die Vereinigten Staaten Nord-Amerikas sollten gemeinsam mit Rußland „das neue geistige Massiv der Zukunft“ bilden als Garant einer „neuen geistlichen Universalität menschlicher Gemeinschaft“. Während Bloch den USA und ihrer Jugend eine „neue Mystik der Brüderlichkeit“ zuschrieb und in bezug auf Rußland „Wärme, Tiefe und Christushoffnung“ erwartete, kritisierte er zugleich Lenin, denn der „läßt einsperren“ und sieht „überall nur Kapitalinteressen, sonst nichts“; „Die Freie Zeitung“ verstand sich als „Unabhängiges Organ für Demokratische Politik“ mit anti-sozialistischer Ausrichtung.

* s. 5. Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit, 5. Beschluß, Programm und Problem

Bloch gehörte also zu den Emigranten, die sich während des Krieges auf die Seite der Gegner Deutschlands stellten. Doch nach der Rückkehr aus dem Exil 1919 schlug Bloch weniger anti-deutsche als sozialrevolutionäre Töne an und sah im Kapitalismus die Ursache des 1. Weltkrieges; schon im „Geist der Utopie (1918)“ hatte er vom „ungeheure[n] Betrug des kapitalistischen Weltkriegs“ und „den Feinden des Volkes, des eigenen Proletariats…,“ geschrieben,* und in der Neufassung des Buches von 1923 bekannte er sich wieder ausdrücklich zu Marx, ohne dabei allzu konkret zu werden. – Zuvor war bereits „Thomas Münzer als Theologe der Revolution (1921)“ erschienen. Den Plan, dieses Buch zu schreiben, hatte Bloch sogleich nach dem Erscheinen von „Geist der Utopie“ gefaßt und ihn 1920 ausgeführt; im Frühjahr 1921 schloß Bloch sein Müntzer-Buch ab.

* 5. Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit, 5. Beschluß, Programm und Problem

Thomas Müntzer* war ein bis dahin wenig beachteter Geistlicher und Bauernführer der Reformationszeit gewesen; Friedrich Engels** hatte in seinem Buch „Der deutsche Bauernkrieg (1850)“ auf ihn hingewiesen und ihn als „plebejischen Revolutionär“ dem „bürgerlichen Reformator“ Luther*** gegenübergestellt. Erst wenige der Texte Müntzers waren bis 1921 veröffentlicht worden; hinzu kam nur spärliche Sekundärliteratur; außerdem war Bloch kein Historiker und kein Theologe. So stellte das Buch für ihn ein Wagnis dar, doch zugleich mußte das Thema Bloch reizvoll erscheinen, da es seiner Phantasie viel Raum ließ. – Bloch zitierte Müntzer in seinem Buch reichlich, doch nicht immer exakt und ohne Quellenangabe. Auch ließ er, ohne dies im Text zu kennzeichnen, manches aus, u.a. die von Müntzer angeführten Schriftbelege, so daß einerseits Müntzers Begründung fehlt und dem Leser andererseits nicht vor Augen geführt wird, welch willkürliche Form der Exegese Müntzer betrieben hat; der Grund dafür besteht darin, daß Müntzer den Text von seinen ihm vermeintlich durch den Heiligen Geist zuteil gewordenen Eingebungen her verstehen will.

* geb. wohl 1489, gest. 1525 (hingerichtet)

** geb. 1820, gest. 1895

*** geb. 1483, gest. 1546

Die unzureichende Quellenlage zusammen mit dem Anknüpfen an Engels‘ nicht belegbare Behauptungen in bezug auf die Vita Müntzers führte zur Verzeichnung schon des Werdegangs des jungen Müntzer, der von Bloch als Kind eines durch den Galgen hingerichteten Vaters* und einer mittellosen Mutter dargestellt wurde, also als gesellschaftlicher Außenseiter, während er tatsächlich Trivial- und Lateinschule besucht haben muß, da er später in Leipzig und Frankfurt an der Oder studierte. Der Vater starb erst nach 1521, und die Mutter war keineswegs mittellos, so daß Müntzer sein Erbteil von der wohl 1520 Verstorbenen brieflich vom verwitweten Vater einfordern konnte.

* Dies findet sich bereits bei Engels. – Immerhin regte Blochs Buch zur Auseinandersetzung mit Müntzer an, und 1922 erschienen Veröffentlichungen zweier protestantischer Kirchengeschichtler, die Leben und Werk Müntzers thematisierten und die wissenschaftliche Diskussion eröffneten, Karl Holl, „Luther und die Schwärmer“ sowie Heinrich Boehmer, „Studien zu Thomas Müntzer“.

Gewiß war Müntzer ein Sozialrevolutionär, wenn auch nicht unbedingt ein plebejischer,* denn er forderte die Macht im Staate nicht für Angehörige des Vierten, sondern des Dritten Standes, genauer für Bauern und Handwerker. Ihnen sollte alles gemeinsam gehören, während die Fürsten, Angehörige des Zweiten Standes, zu enteignen seien. Diese sollten nur geduldet werden, wenn sie sich als ausführende Organe, als besitz- und machtlose Exekutive, der Gemeinschaft zur Verfügung stellten. Kämen sie dem nicht nach, seien sie zusammen mit dem Ersten Stand, der Geistlichkeit abzuschlachten: „Wo sie (sc. die Gegner Müntzers bzw. die Gottlosen) aber das Widerspiel treiben [bzw. sich widersetzen], [gelte,] das[s] man sie erwürge o[h]n[e] alle Gnade… Anders mag die christliche Kirche zu i[h]rem Ursprung nicht wi[e]derkummen.“** Mittels eines Ausrottungskrieges will Müntzer also die Reformation durchgeführen: „…das[s] ich mit Christo sage, Luce 19[, 27] und Matth. 18[, 6], und mit Paulo 1. Corinth 5[, 7. 13] und mit der Unterrichtung des ganzen göttlichen Gesetzes, das[s] man die got[t]losen Regenten, sunderlich Pfaffen und Mönche töten sol[l]…“***

* Engels gebraucht „plebejisch“ offenbar zur Bezeichnung des Vierten Standes, wenn er dieses Eigenschaftswort in einen Gegensatz zu „bürgerlich“, also dem Dritten Stand angehörig, stellt: s. das o. aus „Der deutsche Bauernkrieg (1850)“ Zitierte.

** Thomas Müntzer, Auslegung des andern Unterschieds [bzw. Kapitels] Danielis des Propheten… (1524), die sog. Fürstenpredigt

*** Thomas Müntzer, Auslegung des andern Unterschieds [bzw. Kapitels] Danielis des Propheten… (1524), die sog. Fürstenpredigt

Nicht nur der Erste und der Zweite Stand, auch Abweichler in den eigenen Reihen sollen umgebracht werden: „Exodi am 22. Capitel [V. 17*] sag(e)t Got[t]: „Du sol[ls]t die Ubelteter nicht leben lassen.“** Müntzer betrachtet den von ihm angestrebten Bürgerkrieg als Jüngstes Gericht, durchgeführt durch ihn selbst und seine Gesinnungsgenossen. So soll die Wiederherstellung urchristlicher Gemeinschaft gelingen, „…auf das[s] die Gerechten Weil und Raum haben mögen, Gottes Willen zu lernen; es wer[e] nimmerme[h]r möglich, daß ein ain[z]iger Christ bei sölcher Tyrannei kön[n]te seiner Betrachtung [des Innern***] wa[h]rne[h]men, so das Ubel durch[‘]s Gesetz zu strafen söl[l]te frei sein…“,**** d.h. nicht geahndet werden.

* Ex. 22, 18 V; „maleficos“ wird von Müntzer mit „Übeltäter“ übersetzt, und diese Übeltäter identifiziert er wiederum stillschweigend mit den Gottlosen. Doch seit der Spätantike bezeichnete maleficus den Zauberer bzw. Hexer, und dem entsprechend wird der Begriff in der Vulgata gebraucht; vgl. zum spätmittelalterlichen Sprachgebrauch den „Malleus maleficarum“ als „Hexenhammer“.

** Thomas Müntzer, Auslegung des andern Unterschieds [bzw. Kapitels] Danielis des Propheten… (1524), die sog. Fürstenpredigt

*** „D[a]rum(b) treg(e)t Sant Paul (her)vor den Mosen und Esaiam zu[ de]n Römern am 10. Capitel und redet do [in V. 8 und 10f.] vom innerlichen Worte zu hören in dem Abgrund der Se[e]len durch die Offenbarung Gottis.“ Thomas Müntzer, Auslegung des andern Unterschieds [bzw. Kapitels] Danielis des Propheten… (1524), die sog. Fürstenpredigt

**** Thomas Müntzer, „Hochverursachte Schutzrede und Antwort…[an Luther] (1524)“

Thomas Müntzer wird sich als Propheten angesehen haben, der wie Daniel von den Fürsten als solcher anerkannt wird und sie leitet oder vernichtet, wenn sie ihm nicht gehorchen; darauf weist Müntzers „Fürstenpredigt“  von 1524 hin. Wenn Müntzers Aufstand siegreich gewesen wäre, hätte er wohl lauter Gemeinden vorgestanden, in denen jeder, der der Geistbegabung des erleuchteten Führers widersprechende Eingebungen zu vernehmen meint, hätte erwarten müssen, als Gottloser dem Schwert ausgeliefert zu werden. Damit vergleichbar wäre die Terrorherrschaft der Wiedertäufer zu Münster (1534 – 1535). – Bloch spricht von einer „christusförmig gewordene[n] Christenheit“ und faßt die Zukunftshoffnung Müntzers in der Wendung von der „Freiheit der Kinder Gottes“ zusammen, frei von Entfremdung im Marx‘schen Sinne; doch in Rom. 8, 21 ist von der „Freiheit der Herrlichkeit der Kinder (des) Gottes“ die Rede in bezug auf ihre Erlösung „von der Knechtschschaft der Vergänglichkeit“, was jedes bloß innergeschichtliche Geschehen unendlich übersteigt.

Bloch sah Thomas Müntzer als eine ebenfalls in einer Umbruchzeit wirkende Gestalt an; er verglich also die Situation nach dem 1. Weltkrieg mit der Reformationszeit. Während 1917 die Oktoberrevolution gesiegt hatte, war die Revolution 1525, der sog. Bauernkrieg, noch gescheitert. Doch einen ihrer Anführer, eben den Priester Thomas Müntzer, glorifizierte Bloch als „Theologe[n] der Revolution“, und Bloch schrieb: „Münzer verwandte Tage sind wieder gekommen, und sie werden nicht mehr ruhen, bis ihre Tat getan ist.“ – Damit lag Bloch in gewisser Weise richtig; etwa anderthalb Jahrzehnte später sah er sich nämlich veranlaßt, den Terror der stalinistischen Schauprozesse zu rechtfertigen. Solche Intellektuellen, die deswegen am Sowjetsystem zu zweifeln begannen, kanzelte Bloch 1937 als Renegaten ab; sie glichen den deutschen Intellektuellen, die die Französische Revolution anfangs begrüßten, sich aber angesichts des jakobinischen Terrors (1793 – 1794) von ihr abwandten, statt dessen Notwendigkeit zu begreifen. Bloch‘sche Logik: Die Jakobiner scheiterten trotz Terrors an ihren Gegnern, denn sie hatten nicht genügend von ihnen beseitigt; also muß das Blutbad in der UdSSR noch gewaltiger ausfallen, auf daß der Sozialismus standhalte und endlich, endgültig triumphiere. „Die alte Welt ist verroht und verteufelt wie nie, die neue vollstreckt außer dem geschichtlichen ein sittlichesUrteil, wenn sie niederschlägt und siegt.“* – Immerhin erhielt der in die BRD übergewechselte Bloch 1967 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, und in seiner Laudatio verkündete der in Saarbrücken lehrende Rechtsprofessor Werner Maihofer**: „Sie ehren ihn (sc. Bloch) damit als einen Denker, der mit seinem Werk einen Beitrag zum Frieden dieser Welt geleistet hat.“ In seiner Antwort versäumte es Bloch nicht, auf Thomas Müntzer zu verweisen, der „das Gewaltrecht der Guten verteidigte: ,Unsere Herren machen es selber, daß der gemeine Mann ihnen feind wird‘“***.

* Ernst Bloch, „Rettung der Moral (1937)“ – kursiv von mir, vO

** geb. 1918, gest. 2009; Mitglied der FDP ab 1969; BRD-Innenminister 1972 – 1980

*** Diese Worte Blochs, kursiv von mir, vO, zugleich mit einer Kostprobe seiner Zitierkunst, beziehen sich auf Müntzers „Hochverursachte Schutzrede und Antwort…[an Luther] (1524)“, in der Müntzer darauf hinweist, daß es Diebstahl nicht gäbe, wenn allen alles gemeinsam gehörte: „Die [alles besitzenden] Herren machen das selber, daß i[h]n[en] der arme Man[n] feind wird [und stiehlt]. … Die Ursach[e] des Aufru[h]rs wöllen sie (sc. die Fürsten) ni[ch]t wegtun, wie kann es [auf] die Lenge gut werden? So ich das sage, muß ich aufrü[h]r[er]isch sein, wo[h]l hin.“

*

Bloch reiste im Sommer 1919 zuerst nach Berlin und ließ sich dann in München nieder; finanzielle Unterstützung aus Riga floß ihm nun wieder zu. Seiner Ehefrau aber ging es mittlerweile so schlecht, daß ihr Leben Anfang Januar 1921 in einem Münchner Hospital erlosch. Der stets quirlige, von sich selbst berauschte und mit den Menschen seiner Umgebung sonst hemmungslos spielende Bloch war durch ihren Tod tief getroffen und blieb dies lebenslang – jedenfalls stellte er es später so dar; doch scheint er nicht allzu viel Zeit bei der Todkranken verbracht zu haben, während ihres letzten Aufenthaltes im Krankenhaus.

Der 1978 erschienene Ergänzungsband der Bloch-Gesamtausgabe enthält ein „Gedenkbuch für Else Bloch – von Stritzky“. Dort schildert Bloch, mit wieviel Ehrfurcht er die Stätten aufsuchte, an denen seine verstorbene Ehefrau als Kind und Jugendliche in Riga gelebt hatte; daß er dort – wie einer ihrer Angehörigen später berichtete – aber wiederholt erschien und um sein Erbteil stritt, erwähnt Bloch nicht; noch vor Else war ihr Vater 1920 verstorben.

Im Frühjahr 1921 vollendete Bloch sein Müntzer-Buch, und im folgenden Jahr heiratete er eine Frankfurter Malerin. Gemeinsam unternahmen sie in den Jahren 1924 bis 1926 Reisen nach Italien, Frankreich und Tunesien. Danach ließ sich das Paar in Berlin nieder.

Bloch hatte seit 1916 für die „Frankfurter Zeitung“ geschrieben. Als der seit 1921 als fester Mitarbeiter des Blattes beschäftigte Siegfried Kracauer* Blochs Müntzer-Buch in seiner Rezension im Sommer 1922 verriß, belastete dies Blochs Verhältnis zur „Frankfurter“, in der er auch weiterhin veröffentlichen wollte; Blochs Gegendarstellung wurde nicht angenommen, und Kracauers Freunde, ins Besondere Leo Löwenthal**, hielten zu ihm; dem jungen Adorno*** suchte Kracauer Bloch zu verleiden. Gleichzeitig stieg Kracauer innerhalb der Mitarbeiterschaft der „FZ“ auf: 1924 wurde er vollzeitbeschäftigter Redakteur des Feuilletons, und 1930 übernahm Kracauer sogar die Berliner Redaktion der Zeitung. Anscheinend sah sich Bloch genötigt, sich mit Kracauer zu arrangieren, und so sprach er sich lobend über Kracauers 1928 erschienenen Roman „Ginster“ aus; das Verhältnis zwischen beiden verbesserte sich merklich, zumindest bis 1933, da kühlte es wieder ab, als Kracauer ins Exil ging und von der Außenstelle der „FZ“ in Paris seine Kündigung erhielt. Der 1933 ausgebürgerte Bloch vermochte noch bis 1934 Artikel in der „Frankfurter“ zu veröffentlichen.

* geb. 1889, gest. 1966

** geb. 1900, gest. 1993

*** eigentl. Theodor Wiesengrund; geb. 1903, gest. 1969

In Berlin pflegte Bloch freundschaftlichen Umgang u.a. mit dem gleichaltrigen Dirigenten Otto Klemperer*, der seit 1927 als musikalischer Leiter der Kroll-Oper tätig war; eine Anekdote aus späterer Zeit macht die Neigung des gemütskranken Klemperer, möglichst jede Frau, der er begegnete, zu beschlafen, anschaulich: Seine Tochter findet ihn in seinem Hotelzimmer mit einer Fremden im Bett. Er stellt sie einander vor: „Das ist meine Tochter, aber wer waren Sie gleich?“

* geb. 1885, gest. 1973

Bloch hielt sich auch im Kreis um Bert Brecht* auf. So war Bloch gut bekannt mit Hanns Eisler**, der als Musiker AgitProp-Lieder für die KPD*** komponierte und Beiträge für die Parteizeitung „Rote Fahne“ verfaßte. – Man liest wiederholt, Bloch sei ebenfalls Mitglied der KPD geworden, doch dürfte dies unzutreffend sein. Den Texten der „Roten Fahne“ attestierte Bloch einen „reduzierte[n] Intellekt“.

* Ber(tol)t Brecht, eigentl. Eugen (Berthold Friedrich) Brecht; geb. 1898, gest. 1956

** Johannes Eisler; geb. 1898, gest. 1962

*** Kommunistische Partei Deutschlands

Brecht arbeitete seit 1927 auch gemeinsam mit Kurt Weill* und dessen zweifacher Ehefrau (1926 – 1933 und 1937 – 1950) Lotte Lenya**; das bekannteste Ergebnis dieses Zusammenwirkens war die „Dreigroschenoper (1928)“ mit den „Songs“ von Weill, die Lotte Lenya sehr überzeugend vortrug, eine ehemalige Schauspielerin und Prostituierte, die sich neben Weill stets noch mit einigen weiteren Männern oder auch Frauen „beschäftigte“ und nach Weill drei homosexuelle Trinker heiratete, nacheinander. – Auch mit dem Paar Weill-Lenya war Bloch vertraut.

* geb. 1900, gest. 1950

** eigentl. Karoline Blamauer; geb. 1898, gest. 1981

1927 lernte Bloch, mittlerweile immerhin Anfang vierzig, Karola Piotrkowska* kennen, eine junge Frau jüdisch-polnischer Herkunft, die mit ihrer Familie seit 1921 in Berlin lebte und Blochs dritte Ehefrau werden sollte. Karola Piotrkowska war 1927 noch mit dem jüdisch-deutschen Journalisten Alfred Kantorowicz** liiert, der einige Jahre später Mitglied der KPD wurde und möglicherweise – zusammen mit Georg Lukacs – auch Karola Piotrkowska zu demselben Schritt bewegte; jedenfalls trat sie ebenfalls bei und führte ab 1933 geheime Kurierdienste für die KP in Polen durch.

* geb. 1905, gest. 1994

** geb. 1899, gest. 1979; ab 1950 hatte er in Ost-Berlin einen Lehrstuhl für neueste deutsche Literatur inne, gab die Werke Heinrich Manns (geb. 1871, gest. 1950) heraus und floh 1957 in die BRD; in demselben Jahr wurde Bloch zwangsemeritiert, s. dazu u.

1928 wurde Bloch Vater einer Tochter, doch waren weder seine Gattin noch – die inzwischen mit ihm liierte – Karola Piotrkowska deren Mutter, sondern eine Urlaubsbekanntschaft;* die zweite Ehe Blochs wurde noch in demselben Jahr geschieden. Schon im „Geist der Utopie (1918)“ hieß es: „Zwar das Weib empfängt und muß in Schmerzen gebären. Der Mann zeugt, geht davon und läßt den Preis sexueller Zeche unangefochten zurück.“** – Fast das gesamte Jahr 1929 verbrachte Bloch in Wien, ab Anfang 1930 kehrte er nach Berlin zurück und hielt sich bis 1933 zumeist dort auf.

* Bloch hatte Frida Abeles (geb. 1887, gest. 1944) aus Ascona in Italien kennengelernt und sie geschwängert; bei ihr im Tessin wuchs die Tochter auf.

** 6. Die Gestalt der unkonstruierbaren Frage, Grund in der Liebe

Hinsichtlich seiner Affairen zeigte sich Bloch weitherzig; so ließ er sich noch nach der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft 1933 mit einer deutschen Studentin ein, die der NSDAP angehörte; ihr präsentierte Bloch sich kerndeutscher Philosoph. – Erneut reiste Bloch in die Schweiz aus, nach Zürich. In Wien heiratete er 1934 Karola Piotrkowska, die kurz zuvor ihre Ausbildung zur Architektin erfolgreich abgeschlossen hatte. – Es folgten Aufenthalte in Frankreich und der Tschechoslowakei; 1937 kam in Prag der gemeinsame Sohn Jan Robert* zur Welt.

* geb. 1937, gest. 2010

1938 erfolgte die Emigration der Familie Bloch in die USA. Karola Bloch fand Arbeit und ernährte die Familie, während ihr Gatte „Das Prinzip Hoffnung“ verfaßte. – Ernst Bloch hätte gern Unterstützung vom ehemals Frankfurter Institut für Sozialforschung im us-amerikanischen Exil angenommen, doch dessen finanzielle Mittel waren knapp geworden. So wandte er sich 1942 in einem Brief an Adorno, in welchem er von der Tätigkeit als Tellerwäscher fabulierte, der er nicht mehr nachkommen könne, weil er in seinem Alter dem Arbeitstempo nicht gewachsen sei; vielleicht ließ er sich dabei durch das us-amerikanische Ideal des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär inspirieren. Adorno nahm jedoch wörtlich, was Bloch ihm geschrieben hatte, und verfaßte einen Artikel, in dem er dazu aufrief, sich mit dem armen Bloch solidarisch zu zeigen; so entstand die Legende vom gefeuerten Tellerwäscher Bloch. Außerdem gewährte das Institut Bloch ein halbes Jahr lang eine finanzielle Unterstützung von geringer Höhe.

*

1948 erhielt Bloch einen Ruf der Universität Leipzig, den er annahm: Im Frühjahr 1949 kehrte Bloch aus dem Exil zurück und erhielt mit fast fünfundsechzig Jahren zum ersten Mal in seinem Leben eine feste Anstellung. – 1949 fragte auch die Universität Frankfurt an, ob Bloch Interesse habe, dort zu lehren; zu derselben Zeit erstand in Frankfurt das Institut für Sozialforschung wieder. Bloch lehnte ab; er wolle nicht, wie er sagte, für den Kapitalismus arbeiten. So wurde er Leiter des Philosophischen Institutes der Karl-Marx-Universität Leipzig und erhielt im Jahre 1955 höchste Auszeichnungen, den Nationalpreis der DDR und den Vaterländischer Verdienstorden.

Doch nach dem XX. Parteitag der KPdSU* im Februar 1956 und der Geheimrede Nikita Chrustschows** begann die Entstalinisierung. Es kam im Sommer desselben Jahres zu Unruhen in Polen, wo die Geheimrede veröffentlicht worden war, doch konnte der Konflikt auf friedlichem Wege beigelegt werden. In Ungarn aber brach am 23. Oktober 1956 ein anti-kommunistischer Aufstand aus. Innerhalb zweier Wochen wurde er von sowjetischen Truppen niedergeworfen.

* Kommunistische Partei der Sowjetunion

** geb. 1894, gest. 1971; Generalsekretär der KPdSU 1953 – 1964

Die SED* hielt es für angezeigt, die bis dahin nicht-marxistischen Positionen im Geistesleben gewährten Freiräume aufzuheben, um etwaige oppositionelle Regungen unter den Intellektuellen der DDR zu erschweren. – Blochs Philosophie wurde als nicht-marxistisch eingeschätzt, schon wegen der „Überbetonung des subjektiven Faktors“, so Kurt Hager, damals Sekretär des ZK der SED**, in einem Aufsatz für die Deutsche Zeitschrift für Philosophie im Jahre 1956;*** man habe ihn trotzdem lehren lassen „als Vertreter humanistischer, fortschrittlicher Ideen“, die eine positive Rolle in der „Auseinandersetzung gegen Aberglauben und religiöse Vorurteile“ spielten,**** d.h. zur Zersetzung von Christentum und Kirche geeignet erschienen.

* Sozialistische Einheitspartei Deitschlands

** Zentralkomitee der SED

*** Kurt Hager; geb. 1912, gest. 1998; [nach der Kandidatenzeit ab 1950] seit 1954 Mitglied des ZK der SED, seit 1963 auch des Politbüros des ZK der SED; Hager hatte zuvor ab 1949 Philosophie in Ost-Berlin gelehrt, nachdem er als Journalist einen Dozentenlehrgang der Parteihochschule erfolgreich absolviert hatte. – Der erwähnte Aufsatz Hagers trägt den Titel „Der Kampf gegen bürgerliche Ideologien und Revisionismus“ und erschien in der DZfPh Heft 5/6 (4. Jahrgang 1956); übrigens wurde der Herausgeber der Zeitschrift, Wolfgang Harich (geb. 1923, gest. 1995), als Mitglied einer Oppositionsgruppe vor dem Erscheinen des Heftes festgenommen (Ende 1964 vorzeitig aus der Haft entlassen) und das Heft noch einmal umgestaltet, wonach es mit Hagers o.g. Aufsatz erschien.

**** Kurt Hager in seinem Referat zum ersten Tagesordnungspunkt der 30. Sitzung des ZK der SED (30. Jan. – 1. Febr. 1957).

Bloch gab einerseits eine um Einklang mit der Parteilinie bemühte Erklärung zum Ungarischen Aufstand ab, doch andererseits löckte er in einer Vorlesung während des Novembers 1956 wider den Stachel, da er eine neue Hegel-Interpretation forderte. – In einem offenen Brief der Parteiorganisation des Leipziger philosophischen Institutes an Bloch wurde Mitte Januar 1957 seine Lehre als nicht-marxistisch und damit nicht förderlich für die Erziehung der Studenten im Sinne des Marxismus -Leninismus bezeichnet. Es kam dann zu einer Vereinbarung mit Bloch, nach der er seine Vorlesungstätigkeit einzustellen hatte und [zwangs]emeritiert wurde. Walter Ulbricht schrieb im Februar 1957 ebenfalls an Bloch und legte ihm noch einmal dasselbe dar wie der offene Brief. Im weiteren Verlauf des Jahres 1957 veröffentlichten Mitglieder des Leipziger Institutes für Philosophie zur Abqualifizierung der Bloch‘schen Philosophie das Buch „Ernst Blochs Revision des Marxismus“. Es bemühte sich um den Nachweis, daß Blochs Lehre mehr als nicht-marxistisch, nämlich tatsächlich anti-marxistisch sei; so heißt es darin: „Deutliche Berührungspunkte weist sie (sc. Blochs Philosophie) mit der gegenwärtigen imperialistischen Philosophie auf, die bekanntlich zum Mystizismus und Irrationalismus neigt.“

Es wurde – unter Verweis auf den Aufsatz eines in die BRD geflohenen Bloch-Schülers – ein oppositioneller „Bloch-Kreis“ postuliert: „Es hat sich herausgestellt, daß alle unmittelbar Bloch nahestehenden Assistenten und Schüler in irgendeiner Weise in Konflikt geraten sind mit dem Arbeiter- und Bauernstaat, mit unseren Gesetzen, mit unserer Politik und unserer Regierung. Viele wurden republikflüchtig oder wurden verhaftet.“ So Kurt Hager auf der 30. Sitzung des ZK der SED Ende Januar / Anfang Februar 1957. – Wer als Angehöriger des „Bloch-Kreises“ galt und die DDR nicht verlassen konnte oder wollte, wurde zumindest aus dem philosophischen Bereich entfernt, um seinen Einfluß auf die ideologische Ausrichtung der DDR auszuschließen; der Kontakt mit seinen Schülern wurde Bloch untersagt. – Eine Ausnahme gab es: Blochs Assistent Manfred Buhr*, der 1957 promovierte, vermochte sich als Kritiker Blochs zu erweisen und erhielt drei Jahre nach seiner Habilitation in Greifswald einen Lehrstuhl für Philosophie (1965).

* geb. 1927, gest. 2008

Bloch stand dennoch treu zum real existierenden Sozialismus, wenn er auch auf Änderungen innerhalb des Systems hoffte; 1959 erschien der dritte Band von „Das Prinzip Hoffnung“ im Ost-Berliner Aufbau-Verlag. – Der zwangsemeritierte Bloch blieb Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Als solches hielt er Vorträge im westlichen Ausland, so während des Augusts 1961 in der BRD; seine Gattin begleitete ihn; der Sohn befand sich zu derselben Zeit gerade in London. Der Bau der „Berliner Mauer“ überraschte Bloch also, während er sich im Westen befand.

Das Ehepaar Bloch beschloß, nicht in die DDR zurückzukehren. Die Universität Tübingen bot Ernst Bloch eine Gastprofessur an,* die er annahm, so daß er wieder zu lehren begann. Die Gastprofessur währte bis 1965, doch seine Lehrveranstaltungen wurden Bloch auch weiterhin vergütet, und zusammen mit den Einnahmen als Autor sowie der Unterstützung durch das Bundesland Baden-Württemberg verfügte er über ausreichende Mittel. – Während der dreißiger Jahre hatte der nach Prag umgezogene Malik-Verlag bereits eine Bloch-Gesamtausgabe geplant. Diese wurde vom Suhrkamp-Verlag verwirklicht (1959 – 1977). Ernst Bloch, seit 1970 Ludwigshafener Ehrenbürger, starb, nachdem der sechzehnte und letzte Band der Gesamtausgabe bei Suhrkamp erschienen war; 1978 folgte lediglich noch ein Ergänzungsband.

* Vor allem der Politologe Theodor Eschenburg (geb. 1904, gest. 1999) setzte sich dafür ein.

Ernst Blochs Witwe veröffentlichte neben einer Autobiographie Bände mit Briefen des Verstorbenen, und sie unterstützte Aktivitäten der sich bildenden Neuen Linken, so die Initiative „Frauen gegen [das Verbot der Abtreibung durch den] §218“, und sie reiste nach Nicaragua, um sich mit den revolutionären Sandinisten solidarisch zu zeigen, die 1979 an die Macht gekommen waren,* nachdem sie den von den USA unterstützten Diktator vertrieben hatten. – Im Sommer 1994 verstarb Karola Bloch in Tübingen.

* Sie hatten sie (bestätigt durch die Wahlen von 1984) bis zu den Wahlen von 1990 inne. – Wer sich keine Reise nach Zentralamerika leisten konnte, hatte immerhin die Möglichkeit, aus Solidarität mit den Sandinisten und zu deren Austattung mit Devisen den Kaffee von dort zu trinken, der ranzig-sauer bis scharf-bitter schmeckte und dessen Genuß nur mit revolutionärer Entschlossenheit zu verkraften war.

 

 

3 Kommentare zu „Ernst Bloch (Teil 2)“

  • Theosebeios:

    Wieder ein echter virOblationis — vielen Dank!
    Bei so viel erstaunlicher Detailkenntnis — bis hin zum übelschmeckenden Sandinistenkaffee — wird man zwangsläufig neugierig, wer sich wohl hinter dem Pseudonym verbergen mag 🙂 Denn während die Publikationen der Frankfurter Schule zum Pflichtkanon des jungen westdeutschen Geisteswissenschaftlers der 1960er-/70er-Jahre gehörten, blieb Ernst Bloch eine wohlgelittene Randfigur. Allerdings versorgte er die sich mit der sozialliberalen Wende kräftig expandierende humanitaristische Elite der BRD mit einigen rhetorischen Figuren, zu denen v.a. der Titel seines Hauptwerkes gehört. Diesen können wir vielleicht auch heute noch einmal nutzen, wo der Anlauf des Jahrhunderts in unseren Kreisen so viel kleinmütige Fin-de-siècle-Stimmung erzeugt. Die phantasiereich ausgeschmückten „Erzählungen“ des spät berufenen Universitätsphilosophen (ein vielleicht ungerechter Ausdruck, ich weiß) sollte freilich nicht anders betrachtet werden, als man ein marginales und unoriginelles Stück Geistesgeschichte eben betrachtet.

  • Hildesvin:

    Frei nach Julian Apostatata: Nicht gelesen, dennoch verstanden, dennoch verworfen.
    Der Kaiser ist pudelnackt, und es gibt welche, überhaupt keine Dummen, die seine prächtigen neuen Kleider bewundern?
    Der Jud‘ prunkt mit Wortgeschwurbel, nichts sonst. Mehr scheinen als sein.

  • […] Ernst Bloch (Teil 2) […]

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