Zugang zum Zauberberg
von virOblationis
An Altjahrsabend noch ein später Beitrag zu der Auseinandersetzung mit dem 1. Weltkrieg (1914 – 1918), die 2014 stattgefunden hat: Bei Thomas Manns in der Hauptsache 1907 bis 1914 spielendem Roman „Der Zauberberg (1924)“ handelt es sich zwar um ein antichristliches und deutschfeindliches Werk, das aber nicht einfach unbeachtet bleiben kann, weil es auf höchstem sprachlichen Niveau verfaßt ist. Außerdem enthält der Roman erstaunliche Einsichten, und zwar frühe Hinweise auf die universale Konkurrenz von real existierendem Sozialismus und Kapitalismus, Weltrevolution und „demokratische[m] Imperium“*. Daneben scheint der Autor den inneren Verfall des Jesuitenordens geahnt zu haben, der ja später erheblich zur Krise der Kirche seit dem Vaticanum II (1962 – 1965) beitrug und mit Franziskus (2013 – ) erstmals einen Papst stellt; die „Gesellschaft Jesu“ selbst aber leidet mittlerweile nicht mehr nur geistlich, sondern auch hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen an Phthisis.
* Sechstes Kapitel, Vom Gottesstaat und von übler Erlösung
Nach einem „Vorsatz“ wird im ersten Kapitel die Ankunft zweiundzwanzigjährigen Protagonisten des Romans, Hans Castorp, in Davos geschildert;* er will sich im dortigen „Internationalen Sanatorium(s) ,Berghof‘“** drei Wochen lang erholen. Es folgt eine traumreiche erste Nacht in einem Krankenzimmer. – Darin eingeschaltet findet sich ein Rückblick auf die Vergangenheit Hans Castorps im zweiten Kapitel. Hans Castorp entstammt einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Seine Eltern verstarben früh. Der Vater war in der Import und Export Firma des Großvaters Hansens tätig. Anderthalb Jahre lebte der verwaiste Hans noch bei seinem Großvater, dem Senator Castorp. Als auch der verstarb, wurde der Weinhändler Konsul Tienappel***, ein Onkel der verstorbenen Mutter, Hans‘ Vormund. Konsul Tienappel verwaltete das durch den Verkauf der Castorp‘schen Firma zu Stande gekommene Erbe; dieses ermöglicht Hans Castorp ein Leben ohne Einnahmen aus entlohnter Tätigkeit.
* s. Zweites Kapitel, Bei Tienappels. Und von Hans Castorps sittlichem Befinden
** Erstes Kapitel, Ankunft
*** Der Name entsteht durch Manns sinnentstellende Ersetzung des K- in Kienappel (niederdeutsch), Kiefernzapfen, mit einem T-.
Der Name des Protagonisten des Romans, Hans Castorp, verweist auf historische Persönlichkeiten des mit Hamburg als Hansestadt verbundenen Lübeck: Hinrich Castorp hießen zwei Lübecker Bürgermeister,* Oheim und Neffe. Ein gleichnamiger Enkel des – übrigens aus der Dortmunder Gegend stammenden – älteren Hinrich Castorp, der noch der Marienkirche besonders verbunden gewesen war, so daß er für deren Hauptaltar einen vergoldeten Tabernakel von fast zehn Meter Höhe stiftete und zusammen mit anderen Vornehmen der Stadt für die Ausstattung der neu eingerichteten Sängerkapelle mit täglich zu zelebrierender Messe, begleitet von einer achtköpfigen Schola gesorgt hatte, war der jüngste Hinrich Castorp**, ebenfalls Lübecker Ratsherr, aber nicht Bürgermeister, protestantisch gesinnt. 1556 starb die männliche Linie der Lübecker Familie Castorp aus. Übrigens hieß einer der Brüder Hinrich Castorps d.Ä. wie der Protagonist des Romans Hans Castorp***.
* geb. ca. 1419, gest. 1488 und geb. ?, gest. 1512
** gest. 1537
*** geb. ?, gest. ?
Die Zeit vor dem 1. Weltkrieg charakterisiert Thomas Mann im „Zauberberg“ folgendermaßen: „Dem einzelnen Menschen mögen mancherlei persönliche Ziele, Zwecke, Hoffnungen, Aussichten vor Augen schweben, aus denen er den Impuls zu hoher Anstrengung und Tätigkeit schöpft; wenn das Unpersönliche um ihn her, die Zeit selbst der Hoffnungen und Aussichten bei aller äußeren Regsamkeit im Grunde entbehrt, wenn sie sich ihm als hoffnungslos, aussichtslos und ratlos heimlich zu erkennen gibt und der bewußt oder unbewußt gestellten, aber doch irgendwie gestellten Frage nach einem letzten, mehr als persönlichen, unbedingten Sinn aller Anstrengung und Tätigkeit ein hohles Schweigen entgegensetzt, so wird gerade in Fällen redlicheren Menschentums eine gewisse lähmende Wirkung solches Sachverhalts fast unausbleiblich sein, die sich auf dem Wege über das Seelisch-Sittliche geradezu auf das physische und organische Teil des Individuums erstrecken mag. Zu bedeutender, das Maß des schlechthin Gebotenen überschreitender Leistung aufgelegt zu sein, ohne daß die Zeit auf die Frage Wozu? eine befriedigende Antwort wüßte, dazu gehört entweder eine sittliche Einsamkeit und Unmittelbarkeit, die selten vorkommt und heroischer Natur ist, oder eine sehr robuste Vitalität.“* – Hans lebt als Schüler und Student dahin. Er wird den an ihn gestellten Anforderungen gerecht, ohne dadurch gänzlich gefordert zu sein. Erst im Schiffbauingenieursexamen, der „Hauptprüfung“ vor dem Voluntariat in einem Betrieb, verausgabt er seine Kraft in solchem Maße, daß ihm der Hausarzt einen Kuraufenthalt im Hochgebirge empfiehlt.
* Zweites Kapitel, Bei Tienappels. Und von Hans Castorps sittlichem Befinden
Der Roman schildert dannach Hans Castorps Aufenthalt in einem Davoser Sanatorium, dem „Berghof“. Es herrscht dort eigentlich stets Winter, der von einigen sommerlichen Wochen unterbrochen wird, bei denen man jedoch nicht sicher sein kann, daß sie nicht von Schneefällen unterbrochen werden. Angesichts des beständigen Winters geht bei denen, die sich im Sanatorium aufhalten, das Zeitgefühl verloren; Tage, Wochen, Monate fliegen dahin, weil „der neue Winter, wenn er kommt, gar nicht neu ist, sondern wieder der alte“*. – Von den Bewohnern des Flachlandes unterscheiden sich die Patienten im Sanatorium durch ihren ganz unterschiedlichen Tagesablauf, der vor allem aus Mahlzeiten besteht sowie der Liegekur, zu der man sich „auf rituelle Art in Decken (ge)wickelt“**. Ein äußerliches Merkmal der Verschiedenheit bildet die Gewöhnung an die kalten Temperaturen. „Ohne Hut, ohne Paletot saß er (sc. Hans Castorp) neben ihm“, dem Neuankömmling aus dem Flachland; der „zitterte unter dem zolldicken Tuch seines Mantels“.***
* Sechstes Kapitel, Jähzorn. Und noch etwas ganz Peinliches
** Sechstes Kapitel, Abgewiesener Angriff
*** ebd.
Die Umgangsformen auf dem Zauberberg sind viel lockerer als die im Flachland unten. Ganz offen umgeben sich Damen mit Verehrern. „,Die Kunst, zu verführen‘“ ist „ein schlecht gedrucktes“, aber viel gelesenes „Heft“ im Sanatorium.* [Es herrscht geradezu ein Verhalten vor, wie man es sonst eher in der Halbwelt erwartet und wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemein geworden ist.] Thomas Mann führt dies im „Zauberberg“ auf das Fieber zurück und auf eine Art Trunkenheit durch die Erkrankung. Auf die Röntgenaufnahme der Lunge eines TBC-Kranken weisend sagt der Oberarzt zu Hans Castorp: „Sehen Sie die Kavernen hier? Da kommen die Gifte her, die ihn beschwipsen.“** – Der Oberarzt als Leiter des Sanatoriums ereifert sich zwar, er sei „kein Kuppelonkel!“*** Er hatte auch versucht, gegen die Lockerung der Sitten einzuschreiten, war aber gescheitert und hatte kapitulierte: „Aber dann ist es mir passiert, daß irgendein Bruder oder Bräutigam mich ins Gesicht hinein gefragt hat, was es mich eigentlich angehe. Seitdem bin ich nur noch Arzt…“**** Das wirtschaftliche Interesse der – nicht genannten – Besitzer des „Berghofes“ nötigt den Oberarzt zu ungewollter Nachsicht.
* Fünftes Kapitel, Forschungen
** Fünftes Kapitel, „Mein Gott, ich sehe!“
*** Sechstes Kapitel, Jähzorn. Und noch etwas ganz Peinliches [S. 593]
**** ebd.
Im Sanatorium „Berghof“ sind lauter Kranke versammelt, nicht nur Patienten; selbst der Leiter der Einrichtung, Hofrat Behrens, scheint nicht ganz gesund zu sein. Sein Assistent ist der „Seelenzergliederer“ Krokowski, ein früher Vertreter der Psychoanalyse, der Krankheit auf nicht ausgelebte Liebe, also Sexualität, zurückführt. „Dieser Widerstreit zwischen den Mächten der Keuschheit und der Liebe… endige scheinbar mit dem Siege der Keuschheit. … Allein dieser Sieg der Keuschheit sein nur ein Schein- und Pyrrhussieg, denn…die unterdrückte Liebe …durchbreche den Keuschheitsbann und erscheine wieder, wenn auch in verwandelter, unkenntlicher Gestalt… In Gestalt der Krankheit!“* – Hans Castorp ist als scheinbar Gesunder ein Außenseiter auf dem Zauberberg, bis er feststellt, daß auch seine Körpertemperatur erhöht ist; sein Aufenthalt verlängert sich auf unabsehbare Zeit. Daraufhin wird er in die dortige Gesellschaft fröhlich aufgenommen,** von der alle Gesunden ausgeschlossen sind, wie das Beispiel des genesenen Frl. Kneifers zeigt.*** Merkwürdiger Weise aber wirkt sich die Krankheit der Menschen auf dem Zauberberg kaum wahrnehmbar aus, solange man nicht zu den Moribunden zählt. Man hört von etlichen, die dort starben, doch zuvor bemerkt man keinen allmählichen Verfall der Kräfte, keine Hinfälligkeit; es wird allenfalls erwähnt, daß sie öfter das Bett zu hüten haben. Einen vereinzelten konkreten Hinweis auf die erkrankung bildet lediglich die Erwähnung verminderten Tempos beim Spazierengehen; außerdem stellt Hans Castorp fest, daß er innerlich glüht.
* Viertes Kapitel, Analyse
** s. Viertes Kapitel, Das Thermometer
*** s. Drittes Kapitel, Satana macht ehrrührige Vorschläge
Der Zauberberg mit seinen zahlreichen üppigen Mahlzeiten sowie den lockeren Sitten stellt das frivole Gegenbild eines Klosters dar. Die dortige Lebensweise zieht jeden, der nicht bald wieder abreist, in ihren Bann. Mancher Neuankömmling wurde „schon im ersten Augenblick empfindlich von der Ahnung berührt, daß eine Welt und Sittensphäre ihn als Gast aufgenommen habe, die an geschlossener Selbstsicherheit seiner eigenen nicht nur nicht nachstand, sondern sie sogar noch darin übertraf“, m.a.W. deren „Wirtssphäre erwies sich als wahrhaft erdrückend.“* – Auf die Dauer vermag sich niemand im Sanatorium der besonderen Atmosphäre des Zauberberges zu entziehen. So weit dies für die Bediensteten weniger zutrifft, bleiben ihre Gestalten im Roman schattenhaft; eine Ausnahme bildet der hinkende „Concierge des Internationalen Sanatoriums ,Berghof‘“**, der offenbar an Knochentuberkulose leidet und damit ebenfalls zu den Kranken gehört.
* Sechstes Kapitel, Abgewiesener Angriff
** Erstes Kapitel, Ankunft
Die vom Flachland so verschiedene Lebensweise, die Abgeschiedenheit, macht Erfahrungen möglich, die sonst ausbleiben. So bezeichnet der Roman Hans Castorp als „einen Bildungsreisenden“*. Unter denen, die sich als Patienten auf dem Berg droben aufhalten oder weiter drunten im Dorfe logieren, gewinnt Hans Castorp verschiedene Lehrmeister. Der erste ist Lodovico Settembrini, ein Freimaurer, Literat und Anhänger des Humanismus, der Aufklärung, des Fortschrittes sowie der republikanischen Staatsform, dessen Hauptangriffsziel – auch wegen seiner italienischen Herkunft – Österreich-Ungarns Hauptstadt Wien bildet.** Settembrinis Vater war ein Literat gewesen; er hatte zu Padua als stiller Gelehrter gelebt.*** Der Großvater aber, ein Mailänder Advokat, hatte an den bürgerlichen Revolten des 19. Jahrhunderts teilgenommen.****
* Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn (des weiteren)
** s. Viertes Kapitel, Aufsteigende Angst. Von den beiden Großvätern und der Kahnfahrt im Zwielicht
*** s. Viertes Kapitel, Notwendiger Einkauf
**** s. Viertes Kapitel, Aufsteigende Angst. Von den beiden Großvätern und der Kahnfahrt im Zwielicht
Lodovico Settembrini wird zu Hans Castorps erstem Lehrmeister. Settembrini ist zwar auch ein Patient, doch er ignoriert die für alle geltenden Umgangsformen des Zauberberges. – Settembrini schätzt nur das Gesunde und erkennt im Kranksein keine wertvollen Aspekte;* seine Person steht für das Licht des Verstandes, das alles Nicht-Bewußte abwertet.** Für ihn muß alles klar und eindeutig sein; Ironie akezeptiert er nur, solange sie „dem gesunden Sinn keinen Augenblick mißverständlich“ ist,*** Paradoxa sind ihm ein Greuel.**** Geradezu albern wirkt es, daß Settembrini die drei Tage des Barrikadenkampfes der Julirevolution (27. bis 29. Juli 1830), „Les Trois Glorieuses“, auf eine Ebene mit denen der Schöpfung stellen will.+ Er „schalmeit(e) Frieden“++ und begeistert sich für Abrüstung, aber auch für Kriege der Nationalstaaten, die der Herstellung der Weltrepublik dienen,+++ vor allem, wenn sie gegen Wien gerichtet sind.
* s. Viertes Kapitel, Notwendiger Einkauf
** vgl. sein Verhältnis zur Musik, gegen die Settembrini „eine politische Abneigung“ hegt, Viertes Kapitel, Politisch verdächtig
*** Fünftes Kapitel, Freiheit
**** s. Fünftes Kapitel, Freiheit
+ s. Viertes Kapitel, Aufsteigende Angst. Von den beiden Großvätern und der Kahnfahrt im Zwielicht
++ Sechstes Kapitel, Operationes spirituales
+++ s. Sechstes Kapitel, Noch jemand
Im Gegensatz zum Aufklärer Settembrini steht der auf das Dunkel des Unbewußten fixierte und dazu passend stets schwarz gekleidete Assistenzarzt Dr. Krokowski,* der anscheinend nicht lungenkrank ist und damit eine Ausnahmeerscheinung auf dem Zauberberg darstellt. „Krokowski, dieser schamlose Beichtvater, der mich haßt, weil meine Menschenwürde mir verbietet, mich zu seinem pfäffischen Unwesen herzugeben…“, sagt Settembrini** und bezieht sich damit auf Krokowski als Vertreter der Psychoanalyse. Für seine „Privatordinationen“ benutzt er ein Zimmer im „Kellergeschoß des Anstaltsgebäudes“, und wenn sich die Tür öffnete, sah man, darin „war es viel dunkler gewesen als auf dem weißen Korridor: die klinische Helligkeit dieser unteren Räume reichte offenbar nicht bis dorthinein…“*** – Dagegen wurde „es mit einem Schlage blendend hell im Zimmer“, da Settembrini bei Hans Castorp eintrat, freilich nur, weil „er das Deckenlicht eingeschaltet hatte“+. Settembrini fragt, ob Hans Castorp es „auch fernerhin…erlauben“ wolle, daß er ihm, dem Jüngeren, bei seinen „Übungen und Experimenten ein wenig zur Hand zu gehen“, um „berichtigend auf“ ihn „einzuwirken“, und Hans Castorp nimmt dies Angebot freudig an: „,Ist das ein Pädagog!‘ sagte er…“++
* „Er trägt schwarz, um anzudeuten, daß sei eigenstes Studiengebiet die Nacht ist.“ Drittes Kapitel, Satana
** Viertes Kapitel, Notwendiger Einkauf
*** Viertes Kapietl, Zweifel und Erwägungen
+ Fünftes Kapitel, Ewigkeitssuppe und plötzliche Klarheit
++ ebd.
*
Hans Castorp schwärmt während des Kuraufenthaltes für eine Russin namens Clawdia Chauchat, deren slawische „Kirgisenaugen“ ihn an einen von ihm seiner Zeit angehimmelten Mitschüler erinnern: „Zwar war er blond – sein Haar war ganz kurz über dem Rundschädel geschoren. Aber seine Augen, blaugrau oder graublau von Farbe – es war eine unbestimmte und mehrdeutige Farbe, die Farbe etwa eines fernen Gebirges -, zeigten einen eigentümlichen, schmalen und genaugenommen sogar etwas schiefen Schnitt, und gleich darunter saßen die Backenknochen, vortretend und stark ausgeprägt, – eine Gesichtsbildung, die in seinem Falle durchaus nicht entstellend, sondern sogar recht ansprechend wirkte, die aber genügt hatte, ihm bei seinen Kameraden den Spitznamen ,der Kirgise‘ einzutragen.“* – Von welcher Begierde die einzige Begegnung des jungen Castorp mit gleichaltrigen Hippe in Wahrheit geprägt ist, enthüllt sich bei der Übergabe eines Bleistftes: „Und zog sein Crayon aus der Tasche, ein versilbertes Crayon mit einem Ring, den man aufwärts schieben mußte, damit der rotgefärbte Stift aus der Metallhülse wachse. Er (sc. ,der Kirgise‘) erläuterte den einfachen Mechanismus…“**
* Viertes Kapitel, Hippe
** ebd.
An Clawdia Chauchat fasziniert Castorp, was er sonst vehement ablehnt, so das achtlose Zuwerfen von Türen. Ihre Person interessiert ihn eigentlich gar nicht, sondern nur ihr Körper: „Hans Castorp träumte, den Blick auf Frau Chauchats Arm gerichtet. Wie Frauen sich kleideten! Sie zeigten dies und jenes von ihrem Nacken und ihrer Brust, sie verklärten ihre Arme mit durchsichtiger Gaze … Das taten sie in der ganzen Welt, um unser sehnsüchtiges Verlangen zu erregen.“* Hans Castorp bekennt, „daß gesellschaftliche Beziehungen zu Clawdia Chauchat, gesittete Beziehungen, bei denen man ,Sie‘ sagte und Verbeugungen machte und womöglich Französisch sprach, – nicht nötig, nicht wünschenswert, nicht das Richtige seien…“** – Zwar unterhält sich Hans Castorp später tatsächlich mit Clawdia Chauchat teils deutsch, teils französich, doch handelt es dabei nicht um gesittete Konversation: „Und hatte er denn auch etwa mit ihr ,gesprochen‘…oder nicht vielmehr fremdsprachig im Traum geredet, auf wenig zivilisierte Weise?“***
* Viertes Kapitel, Analyse
** Fünftes Kapitel, Enzyklopädie – kursiv im Original
*** Sechstes Kapitel, Veränderungen
Tatsächlich kommt es dazu, daß sich Hans Castorp von Clawdia Chauchat am Faschingsabend einen Bleistift leiht; auch sie erklärt ihm „die landläufige Mechanik des Stiftes“*, und wie der Mitschüler seiner Zeit ermahnt auch Clawdia Chauchat Hans Castorp, nicht zu vergessen, das Crayon zurückzugeben.** Und wie Hans Castorp danach nie wieder mit dem von ihm verehrten Mitschüler sprach, so – für‘s erste – auch nicht mit Clawdia Chauchat, denn sie reist am folgenden Tag ab, da sie zwar nicht geheilt ist, sich ihr Zustand im Sanatorium jedoch auch nicht weiter bessert. – In seinem Wortwechsel mit Clawdia Chauchat gelangt Hans Castorp zu einer Formulierung, die das aus seiner Sicht Dreifaltige des dem Werden und Vergehen unterworfenen leiblichen Daseins zusammenfaßt: „Le corps, l‘amour, la mort, ces trois ne font qu‘un.“**** Der Körper, die [körperliche] Liebe, der Tod, diese drei machen nur ein[es aus; Krankheit erscheint dabei als gesteigerte Körperlichkeit].
* Fünftes Kapitel, Walpurgisnacht
** s. Fünftes Kapitel, Walpurgisnacht; vgl. Viertes Kapitel, Hippe
*** s. Viertes Kapitel, Hippe
**** Fünftes Kapitel, Walpurgisnacht
Seine Bezogenheit auf das Körperliche bringt Hans Castorp in einen Gegensatz zu Settembrini, der das Leibliche nur bejaht, soweit es gesund und leidensfrei ist. „Eine Macht, ein Prinzip aber gibt es, dem meine höchste Bejahung, meine höchste und letzte Ehrerbietung und Liebe gilt, und diese Macht, dieses Prinzip ist der [rein diesseitig verstandene] Geist.“* So Settembrini. – Er gehört einer politischen Vereinigung an, die sich „,Internationaler Bund für Organisierung des Fortschritts‘“** nennt und eine Enzyklopädie „der ,Soziologischen Pathologie‘“*** herausgeben will, um sämtliche menschlichen Leiden zu beseitigen; auch Settembrini soll einen Artikel dafür verfassen.**** Er fordert Hans Castorp auf, den Zauberberg und damit das Leben unter lauter Kranken ungeachtet seines Zustandes zu verlassen,+ um seinem Beruf werktätig und als wertvolles Glied der Gesellschaft nachzugehen, doch Hans Castorp verweist darauf, daß Settembrini selbst dies auch nicht tut.++
* Fünftes Kapitel, Enzyklopädie
** ebd.
*** ebd.
**** s. Fünftes Kapitel, Enzyklopädie
+ s. ebd.
++ s. ebd.
Hans Castorp beginnt, sich von Settembrini zu lösen, seit dieser ihn aufgefordert hat, den Zauberberg zu verlassen. – Hans Castorps nächster Lehrmeister wird Dr. Krokowski. Hans Castorp besucht dessen „[psycho]analytische(r) Grube“*. Was dort allerdings besprochen wird, erfährt der Leser nicht.
* Sechstes Kapitel, Veränderungen; vgl. Sechstes Kapitel, Vom Gottesstaat und von übler Erlösung
Angesichts seiner Fixiertheit auf das Körperliche beginnt sich Hans Castorp von der Technik und seinem Beruf als angehender Schiffbauingenieur abzuwenden. Das Buch „Ocean steamships“ hatte er zwar zum Kuraufenthalt mitgebracht, aber nie interessiert darin gelesen. Nun besorgt er sich medizinische Fachliteratur zur Physiologie samt den dazugehörigen Bereichen von Biologie[, Physik] und Chemie; so nimmt sich Hans Castorp vor, auch botanische Fachliteratur zu erwerben,** setzt dies in die Tat um und legt ein Herbarium an,*** und ebenso interessiert er sich für Sternenkunde.****
* s. Sechstes Kapitel, Noch jemand und Fünftes Kapitel, Humaniora
** Sechstes Kapitel, Veränderungen
*** s. Sechstes Kapitel, Noch jemand
**** s. ebd.
Hans Castorp stellt die Frage nach dem was Leben ist, woher es rührt und was den Tod ausmacht. Hans Castorp erkennt, wie unzureichend die Antworten der Naturwissenschaft sind.* – Seine während der nächtlichen Liegekur erblickte Vision [des Urbildes] des lebendigen Menschen zeigt sich als Frau[, von der Clawdia Chauchat nur ein Abbild darstellt].**
* s. Fünftes Kapitel, Forschungen
** s. ebd.
Das Interesse am Leiblichen bringt Hans Castorp aber auch dazu, Todkranken einen Blumengruß zu senden und sie zu besuchen. Mit einer Patientin, deren Ende nicht mehr allzu fern ist, besucht er den Friedhof des Ortes.* „,Resquiescat in pace‘, sagte er. ,Sit tibi terra levis. Requiem aeternam dona ei, Domine. …wenn es sich um den Tod handelt und man zu Toten spricht oder von Toten, so tritt auch wieder das Latein in Kraft… Aber es ist nicht aus humanistischer Courtoisie, daß man Lateinisch redet…, sondern von einem ganz anderen Geist… Das ist Sakrallatein, Mönchsdialekt, Mittelalter… Ich finde, man muß sich klar sein über die verschiedenen Geistesrichtungen…, es gibt die fromme und die freie. …aber was ich gegen die freie, die Settembrinische meine ich, auf dem Herzen habe, ist nur, daß sie die Menschenwürde so ganz in Pacht zu haben glaubt…** – Settembrini bekennt sich zum „Classicismo [und] gegen die Romantik.“*** Er tritt für das Ideal einer „bürgerlichen“ bzw. „internationale[n] Weltrepublik“**** ein. „Die Errungenschaften…von Renaissance und Aufklärung…heißen Persönlichkeit, Menschenrecht, Freiheit!“+ Sie umfassen „all das…, was man Liberalismus, Individualismus, humanistische Bürgerlichkeit nennt“++. All dies zielt letztlich ab auf „das demokratische Imperium“, die „kapitalistische Weltrepublik“, ein universales „Manchestertum“+++.
* s. Fünftes Kapitel, Totentanz
** Fünftes Kapitel, Totentanz
*** Fünftes Kapitel, Enzyklopädie
**** Sechstes Kapitel, Noch jemand
+ Sechstes Kapitel, Vom Gottesstaat und von übler Erlösung
++ ebd.
+++ ebd.
Nicht im Sanatorium, sondern in dem ein wenig weiter unten gelegenen Dorfe wohnt der aus dem galizisch-wolhynischen Grenzgebiet stammende Leo Naphta.* Wegen seiner Erkrankung an Tuberkulose lebt er dauernd dort. Er ist [Gymnasial]professor und lehrt Latein in den obersten Klassen einer am Ort befindlichen badischen Schule für lungenkranke Kinder, dem Davoser Fridericianum. – Naphta ist ein zum Christentum konvertierter Jude, ein brillianter Denker, aber voller Widerspruchsgeist und äußerst eigensinnig. Er wurde von einem Jesuitenpater als Nachwuchstalent für den Orden gewonnen[, kaum aber für die wahre Kirche und den Glauben].
* s. Sechstes Kapitel, Operationes spirituales
Naphta war „Zögling(s) einer Ordensschule“*, nämlich der Jesuiten. Naphta führte dort äußerlich ein Leben „dienender Demut, schweigender Unterordnung und religiösen Trainings, dem er [aber] geistige Lüste im Sinne früher fanatischer Konzeptionen abgewann.“** Anschließend begann Naphta, Theologie zu studieren und empfing die Niederen Weihen; dann wurde er noch Subdiakon, doch nicht mehr Diakon und Priester, da er erkrankte.*** Dennoch nennt Settembrini ihn „Padre“****.
* Sechstes Kapitel, Noch jemand
** Sechstes Kapitel, Operationes spirituales
*** s. Sechstes Kapitel, Vom Gottesstaat und von übler Erlösung
****Sechstes Kapitel, Vom Gottesstaat und von übler Erlösung
Im Gegensatz zu Settembrini setzt sich Naphta für den Kommunismus ein, in dem er die Lehre der Kirche auf neue Weise verwirklicht sieht und von dessen künftigem Terror – der Roman wurde verfaßt noch ehe Stalin an die Macht kam! – Naphta eine reinigende Wirkung erhofft;* es handelt sich bei Naphta insofern um enen – seiner Herkunft nach jüdischen – Bolschewiken. „Absoluter Befehl! Eiserne Bindung! Vergewaltigung! Gehorsam! Der Terror!“** Dafür macht sich Naphta stark. – Die Verbindung von Geistlichem und Grausamkeit zu einer „heilige[n] Grausamkeit“***, hat er von seinem Vater übernommen, der als Schochet die Schlachttiere dem Ritualgesetz gemäß ohne Betäubung ausbluten ließ und daneben als eigensinniger Grübler mit dem Rabbiner über jüdische Lehren stritt sowie wunderbar erscheinende Heilungen wirkte.**** Naphta setzt die kommunistische Ideologie, die er mit der traditionellen Theologie identifiziert, über wissenschaftliche Forschungsergebnisse.+ Zugleich ist Naphta ist ein häretischer,++ ein „inkorrekter Jesuit“+++.
* s. Sechstes Kapitel, Vom Gottesstaat und von übler Erlösung
** Sechstes Kapitel, Operationes spirituales
*** Sechstes Kapitel, Operationes spirituales – Wie Naphta Religion und Grausamkeit zu verbinden sucht, so auch Gott und Teufel, ebd.; Naphta behauptet einen „Gegensatz von Gott[-Teufel] und Natur“, ebd., samt Tugend, s. ebd.
**** s. Sechstes Kapitel, Operationes spirituales
+ s. Sechstes Kapitel, Vom Gottesstaat und von übler Erlösung
++ s. ebd.
+++ Sechstes Kapitel, Operationes spirituales
*
Hans Castorp stellt nach zweijährigem Aufenthalt im Sanatorium fest: „Ich…habe viel gelernt bei Denen (sic!) hier oben, bin hoch vom Flachlande hinaufgetrieben…“* Doch nun genügen ihm seine bisherigen Lehrmeister nicht mehr: „…Naphta…[und] Settembrini, sie sind beide Schwätzer.“** Settembrini steht für [diesseitige] Rationalität, Demokratie und die „Zivilisation des gebildeten Westens“***, Naphta für irrationale, krankhafte Körperlichkeit, vergangenes Preußentum**** und künftigen Kommunismus.
* Sechstes Kapitel, Schnee
** ebd.
*** Sechstes Kapitel, Operationes spirituales
**** s. Sechstes Kapitel, Operationes spirituales
Hans Castorp hat die Natur zuerst theoretisch erforscht, indem er sich für mehrere Fachwissenschaften interessiert hat. Nun sucht er die direkte Begegnung mit dem „Urschweigen“* der Natur, um zu erfahren, was Leben ist. Hans Castorp stiehlt sich fort aus dem Sanatorium und begibt sich verbotener Weise auf eine einsame Skifahrt ins Gebirge, wo er durch einen Schneesturm in Lebensgefahr gerät. Zuvor wird ihm an Hand der Gestalt von Schneeflocken klar, daß das Unbelebte einen streng regelmäßig[-mathematisch]en Aufbau hat. [Das Lebendige weicht davon ab; wenn der Körper nach dem Tode zerfällt, kehrt er in die Regelmäßigkeit der unbelebten Materie zurück.] So erklärt es sich, daß „Teilchen eben der anorganischen Substanz…auch das Lebensplasma, den Pflanzen-, den Menschenleib[,] quellen“ macht, wobei das „Leben [nur] schauderte vor der genauen Richtigkeit“**.
* Sechstes Kapitel, Schnee
** ebd.
Als er schon dem Tode nahe ist, wird Hans Castorp eine Vision zuteil: Er erblickt eine heitere Mittelmeerlandschaft, die sich in einen Alptraum der Grausamkeit verwandelt. Die beiden Aspekte des Geschauten entsprechen dem, was Settembrini und Naphta lehren, wobei Hans Castorp sich mehr zu Settembrini hingezogen fühlt. Doch der eine Aspekt des Bildes reicht nicht aus; der andere gehört ebenso dazu. „Man muß die andere Hälfte dazu halten, das Gegenteil.“* Erst so wird das Verständnis umfassend und angemessen. Leben und Vernunft stehen Lust und Tod gegenüber. Doch will Hans Castorp sie nicht beide gleich gelten lassen und bekennt daher: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“** „Die Liebe steht dem Tode entgegen, nur sie, nicht die [diesseitig verstandene] Vernunft, ist stärker als er.“*** „…Liebe und Güte: Form und Gesittung“ angesichts des unausweichlichen Todes sind dem Menschen wahrhaft gemäß und ermöglichen ein Zusammenleben „verständig-freundlicher Gemeinschaft und schönen Menschenstaats“****. – Von Settembrini ausgehend über Naphta hinweg gelangt Hans Castorp weniger zu einer Synthese beider, als daß er der Naphta‘schen Antithese eingedenk zur Settembrini-These zurückkehrt. Zwar gibt Hans Castorp vor, sowohl Naphta als auch Settembrini nicht zu folgen, doch bekennt er gleichzeitig, „Ich will es mit ihnen halten in meiner Seele und nicht mit Naphta“+, wobei mit „ihnen“ die „Sonnenleute“ gemeint sind, die in der Vision die Lehren Settembrinis illustrieren. Also wendet sich Hans Castorp sehr wohl ihm zu, nur daß er – im Unterschied zu Settembrini – die gegenteilige Position des Todes und des Vergehens nicht ignorieren, nicht ausklammern will, sondern sich ihrer bewußt gegen sie wendet.
* Sechstes Kapitel, Schnee
** Sechstes Kapitel, Schnee – kursiv im Original
*** Sechstes Kapitel, Schnee
**** ebd.
+ ebd.
*
Während der beiden ersten Jahre Hans Castorps auf dem Zauberberg hält sich auch ein etwa gleichaltriger Verwandter von ihm dort auf, Joachim Ziemßen, ein Vetter. Hans und Joachim stehen einander zwar verwandtschaftlich, nicht aber persönlich sehr nahe, so daß sie einander zwar duzen, doch so gut wie nie beim Vornamen nennen. Jochim stellt so etwas wie das Gegenbild Hans Castorps dar. Während dieser sich dem durch Settembrini eröffneten Weg zur Annäherung an die „Zivilisation des gebildeten Westens“* einschlägt, übernimmt Joachim die Rolle des dem Überkommenen verhafteten Deutschen. Joachim ist mit Leib und Seele Soldat, und er verläßt das Sanatorium für geraume Zeit, in der er zum Leutnant aufsteigt. Doch gerade dabei verschlimmert sich seine Tuberkulose so sehr, daß Joachim bald daran stirbt, nachdem er, wiederum an einem „der allerersten Augusttage“**[ im Jahre 1909] zurückgekehrt ist. Der Oberarzt mutmaßt, daß die Verschlechterung des Zustandes Joachim Ziemßens, das Übergreifen der Lungentuberkulose auf den Kehlkopf, in Zusammenhang steht mit den besonderen Bedingungen des Soldatenlebens: „Kann sein, daß das Kommandogeschrei im Dienst da einen locus minoris resistentiae geschaffen hat.“***
* Sechstes Kapitel, Operationes spirituales
** Sechstes Kapitel, Als Soldat und brav
*** ebd.
Wohl nur kurze Zeit, nachdem Joachim Ziemßen Ende November oder Anfang Dezember [1909] verstorben ist, kehrt im Advent [offenbar desselben Jahres die Anfang März 1908 abgereiste] Clawdia Chauchat ins Sanatorium zurück, doch nicht allein, sondern als Geliebte des etwa sechzigjährigen „Kolonial-Holländer[s]“ Pieter Peeperkorn, „ein[es] Mann[es von Java, ein[es] Kaffeepflanzer[s]“*, der „schwer reich“ ist, „Kaffeekönig in Ruhestand“**. Peeperkorn verkörpert das dem klösterlichen Leben in Armut, Gehorsam und sexueller Enthaltsamkeit diametral entgegengesetzte Dasein im Sanatorium am deutlichsten. Nach den dort üblichen fünf üppigen Mahlzeiten ruft er zu weiterem Zechen am Spieltisch zusammen. Man ist gewohnt, ihm zu folgen, da er sehr freigebig ist und sein herrisches Wesen keinen Widerspruch duldet. Nach dem – durch den Oberarzt verbotenen – Glücksspiel und maßlosem Trinken zeigen sich vor allem die Frauen am Tisch enthemmt wie Peeperkorn selbst. Dabei setzt er sich blasphemisch an die Stelle des Heilands in Gethsemane, indem er das Neue Testament ausführlich zitiert.***
* Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn
** ebd.
*** s. Siebentes Kapitel, Vingt et un
Hans Castorp ist beeindruckt von Peeperkorn, denn dessen „vom weißen Haar umflammtes Haupt… war königlich“*; „man konnte nicht umhin, ihn zu sehen, sein majestätisches Haupt überragte jede Umgebung…“** Es handelt sich bei ihm um eine „Persönlichkeit großen Formats“***, um einen „großartigen Mann(e)“****. [Daß Peeperkorn ohne seinen Reichtum nur ein allgemein verachteter Trinker wäre, scheint weder Hans Castorp noch der Autor, Thomas Mann, zugeben zu wollen;] dabei erwähnt er doch beiläufig, daß Hans Castorp Peeperkorn für einen „alten Esel und kaudernden Trunkenbold“+ halten könnte[, doch geschähe solches nur aus Eifersucht und somit ungerechter Weise].
* Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn
** Siebentes Kapitel, Vingt et un
*** Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn (des weiteren)
**** ebd.
+ ebd.
Der dauernd an Tropenfieber leidende Peeperkorn ist Alkoholiker; im Sanatorium aufgenommen wird er als Begleiter der zurückkehrenden Clawdia Chauchat. Peeperkorn gibt sich hemmungslos allen irdischen Genüssen hin und fürchtet lediglich das Versagen; Hans Castorp erblickt „etwas wie persönliches Entsetzen, ihn selbst, den königlichen Mann betreffend“*. Es mag sich um „Angst also“** vor Impotenz handeln, da er das Leben beschreibt als „ein Weib, ein hingespreitet Weib…, das in herrlicher, höhnischer Herausforderung…alle Spannkraft unserer Manneslust [beansprucht]“***.
* Siebentes Kapitel, Vingt et un
** ebd. – kursiv im Original
*** Siebentes Kapitel, Vingt et un
Die Gestalt des Mynheer Peeperkorn ist formal mißlungen, denn einerseits soll er [durch seine Trunksucht bereits so weit geschädigt sein, daß er] nicht einmal mehr einfache Gedankengänge zu artikulieren vermag, andererseits spricht Peeperkorn auch zusammenhängend und läßt ggf. nur stets ein – leicht zu ergänzendes Wort aus, so bei der Beobachtung eines Steinadlers am Himmel;* daher vermag Hans Castorp bei anderer Gelegenheit, das Fehlende ohne weiteres zu ergänzen.** Hinzu kommt eine stilistische Schwäche: Immer wieder werden Peeperkorns zerrissene Lippen und das Königliche seiner Gestalt erwähnt. – Von seinem Krankenbett aus hält Peeperkorn Hans Castorp einen Vortrag über bestimmte exotische Pflanzen, die als Gift wie als Heilmittel zu wirken vermögen und obendrein einen Rausch hervorrufen können. Die darin sichtbar werdende Dynamik entspricht derjenigen des Lebens, „Dynamik, sagte Peeperkorn, sei alles in der Welt der Stoffe – das Weitere sei völlig bedingt.“*** [Diese Dynamik erweckt offenbar das Leben, das sich eine Zeit lang über die Regelmäßigkeit der unbelebten Materie erhebt und beim Nachlassen der Wirkung dorthin zurückzukehrt.] – So tritt Peeperkorn als letzter Lehrmeister Castorps in Erscheinung. Doch wirkt er nicht allein durch Worte wie Settembrini und Naphta, sondern durch sein Beispiel, und Hans Castorp „sucht(e) auch Peeperkorns [stammelnde Sprechweise und Gestik als vermeintliche] Kulturgebärden zu kopieren.“****
* s. Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn (des weiteren)
** s. ebd.
*** Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn (des weiteren)
**** ebd.
Man hatte sich schon gefragt, was Hans Castorp durch Dr. Krokowski über sich selbst erfährt. Nun wird klar, warum darüber nichts verlautet: Die Gestalt Krokowskis bildet im Zauberbergroman sozusagen den Auftakt zum Erscheinen Peeperkorns: Was Krokowski theoretisch lehrt, lebt Peeperkorn praktisch vor, das ungezügelte Ausleben des Geschlechtstriebs; stillschweigend tritt Peeperkorn als Lehrmeister Castorps an die Stelle Krokowskis. – Als Hans Castorp sich genötigt sieht zu gestehen, daß [dem durch seine Trunksucht offensichtlich bereits schwer geschädigten] Peeperkorn „Dummheit“ kaum abzusprechen ist, verweist Hans Castorp auf „das Dynamische“, durch die Peeperkorn alle anderen „in die Tasche (ge)steckt. Und dafür ist uns nur ein Wort an die Hand gegeben, und das heißt ,Persönlichkeit‘.“*
* Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn (des weiteren)
Vom Krankenbett aus enthüllt Peeperkorn dem jungen Castorp seine Lehre: „,Unser Gefühl…ist die Manneskraft, die das Leben [er]weckt.‘“ Ja, es bestehe sogar eine „,religiöse Verpflichtung zum Gefühl.‘“* Mit anderen Worten das Animalische macht die Lebendigkeit [nicht nur des Tieres, sondern auch] des Menschen aus, und den Zielpunkt dessen bildet die Zeugung. „,Das Gefühl ist göttlich. Der Mensch ist göttlich, sofern er fühlt. … [Der offenbar mit der Vernunft verbunden zu denkende] Gott schuf ihn (sc. den Menschen), um durch ihn zu fühlen. … Versagt er im Gefühl [bzw. erweist er sich als impotent], so bricht Gottesschande herein…‘“**
* Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn (des weiteren) – kursiv im Original
** Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn (des weiteren)
Im „Mai…[dem] Wonnemond“* [wohl des Jahres 1910] unternimmt Peeperkorn mit Hans Castorp, Clawdia Chauchat und einigen weiteren Gefährten einen Ausflug zu einem Wasserfall. In dessen Tosen, das jedes Wort unverständlich macht, hält Peeperkorn so etwas wie seine geheimnisvollen Abschiedsreden. Wohl weil Peeperkorn zunehmend kränkelt, spricht Thomas Mann in diesem Zusammenhang vom „Bild des Schmerzensmannes“**, was nur als lästerlich bezeichnet werden kann.
* Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn (des weiteren)
** Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn (Schluß)
In der darauffolgenden Nacht bringt sich Peeperkorn, „Gottes Hochzeitsorgan“, durch Gift um angesichts des „Versagen[s] des Gefühls vor dem Leben“*. – Clawdia Chauchat reist erneut ab und kehrt nicht wieder zurück, was nur in einem einzigen Satz Erwähnung findet.** Angesichts der Bedeutung der Gestalt Clawdia Chauchats für den Protagonisten des Romans erscheint dies unangemessen.
* Siebentes Kapitel, Mynheer Peeperkorn (Schluß)
** s. Siebentes Kapitel, Der große Stumpfsinn
*
Da Hans Castorp noch immer Fieber hat, obwohl seine Tuberkuloseerkrankung weitgehend ausgeheilt ist, erhält er eine Eigenblutbehandlung, die aber wirkungslos bleibt;* ein Ende seines Aufenthaltes auf dem Zauberberg ist nicht mehr absehbar. – Seit dem Selbstmord Peeperkorns verbringt Hans Castorp seine Zeit auf dem Zauberberg unter der Last der Langeweile in „,große[m] Stumpfsinn‘“**. [Wie vor dem jahrelangen Sanatoriumsaufenthalt lebt Hans Castorp wieder bloß dahin; seine (Um)erziehung ist offenbar mißlungen.] – Ab und zu gibt es Abwechslung für die Patienten, die ihnen geraume Zeit lang Ablenkung verschafft; dazu dient beispielsweise die Anschaffung eines Grammophons für den „Berghof“.***
* s. Siebentes Kapitel, Der große Stumpfsinn
** Siebentes Kapitel, Der große Stumpfsinn
*** s. Siebentes Kapitel, Fülle des Wohllauts
Da Peeperkorn tot ist, tritt nun wieder Dr. Krokowski hervor, und man erfährt endlich seinen Vornamen, Edhin.* Doch die Psychoanalyse bedeutet ihm offenbar gar nichts mehr, denn er wendet sich nun ganz dem Spiritismus zu. An die Stelle von Arzt und Patient tritt ein Team, das aus Kranken gebildet wird, angeleitet von Dr. Krokowski. Im Zentrum des Interesses steht eine junge Patentin aus Dänemark, Ellen Brand, die als Medium dient und deren Jungfräulichkeit immer wieder betont wird. Mit Hilfe ihrer medialen Befähigung kommt es zu einer widerlichen Karikatur des Weihnachtsfestes, da durch sie die Erscheinung eines Verstorbenen, nämlich Joachim Ziemßens, hervorgebracht wird, und diesen Vorgang beschreibt Thomas Mann als Geburt; er selbst nennt dies eine „skandalöse Niederkunft“**.
* s. Siebentes Kapitel, Fragwürdigstes
** Siebentes Kapitel, Fragwürdigstes
So hat sich der Roman schließlich in die Niederungen des Aberglaubens begeben. Das Gegenbild das klösterlichen Lebens vollendet sich danach im Antitypus der christlichen Liebesgemeinschaft als „Zanksucht. Kriselnde Gereiztheitheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge.“* In diesem Zusammenhang taucht ein deutscher Antisemit auf, dessen Erscheinen auf dem Zauberberg nur kurz geschildert wird, der aber das spätere Wirken der zur Zeit des Erscheinens des Romans durch den gescheiterten Münchner Putsch (1923) erstmals weiteren Kreisen bekannt gewordene NSDAP** vorherahnen läßt.
* Siebentes Kapitel, Die große Gereiztheit
** Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
Im Zuge der sich häufenden Streitigkeiten kommt es zum Duell zwischen Settembrini und Naphta, die inzwischen beide immer seltener das Krankenbett verlassen.* Settembrini aber feuert bloß in die Luft, woraufhin sich Naphta, der offensichtlich den Tod gesucht hat, selbst erschießt.**
* s. Siebentes Kapitel, Die große Gereiztheit
** s. ebd.
Mit der Zanksucht auf dem Zauberberg wird zugleich das Geschehen im abgeschiedenen Sanatorium mit den Vorgängen im Flachland verknüpft, wo eine allgemeine Bereitschaft zur bewaffneten Auseinandersetzung schließlich in den Ausbruch des 1. Weltkrieges im Sommer 1914 mündet. Die Gemeinschaft der Patienten des Sanatoriums des „Sündenberges“* löst sich [Anfang August 1914] auf; jeder eilt in die Heimat. Selbst der schwerkranke Settembrini kehrt nach Italien zurück, um als Soldat gegen die Mittelmächte bereit zu stehen.
* Siebenes Kapitel, Der Donnnerschlag
** s. Siebenes Kapitel, Der Donnnerschlag
In einem kurzen Schlußteil wird Hans Castorp als deutscher Soldat bei einem Sturmangriff beschrieben. Bereits zuvor hatte seine Vorliebe für das Lied „Am Brunnen vor dem Tore“ seine – entgegen allen pädagogischen Bemühungen ins Besondere Settembrinis nicht gelöste – innere Bindung an deutsche Kultur und Vergangenheit verraten, an „eine Welt, die er (sc. Hans Castorp) wohl lieben mußte, da er sonst in ihr stellvertretendes Gleichnis (sc. das besagte Lied) nicht so vernarrt gewesen wäre.“* Nun singt Hans Castorp das Lied „halblaut für sich“**, während er nach vorn stürmt. – Der Autor deutet schließlich noch an, daß Hans Castorp den Krieg kaum überlebt haben wird. Sollte er aber davonkommen wie der Autor, der sich auf einen literarischen Kriegsdienst beschränkte, dann bleibt ihm die Möglichkeit, sich gleich Thomas Mann doch noch von deutscher Kultur und Vergangenheit abzuwenden. Dem Autor ermöglichte es sein opportunstischer Charakter, „zart mit der Fingerspitze den Augenwinkel zu tupfen“***, um damit Settembrini nachzuahmen, der beim Abschied von Hans Castorp „mit der Ringfingerspitze der Linken zart einen Augenwinkel berührte“****.
* Siebentes Kapitel, Fülle des Wohllauts
** Siebenes Kapitel, Donnnerschlag
*** ebd.
**** ebd.
[…] Zum Originalartikel […]
Wohlstandsverwahrlosung vor neunzig Jahren.
Meine Verehrung für die mit dem güldenem Löffel im Maul Geborenen ist gering, und das sehe ich nicht für Pöbelneid an.
Con los pobres de la tierra … aber ich will nicht übertreiben.
Der „Zauberberg“ und sein Autor „antichristlich und antinational“ Sorry, werter Herr. Sie haben Tomaten auf den Augen und das wahrscheinlich von Geburt an.
vO: Immerhin habe ich meine Interpretation mit Zitaten und weiteren Textverweisen belegt.
Sehr schön!
Und dass Thomas Mann eine antideutsche Schwuchtel ist bzw. war, das wußte schon Erich Kästner vor fasst 70 Jahren (siehe „Notabene 1945“).
„vO: Immerhin habe ich meine Interpretation mit Zitaten und weiteren Textverweisen belegt“
Nein, das haben Sie nicht. [vO: Ein Satz, der nicht nur eine intellektuelle Zumutung darstellt. – Offenbar meint der Forist, mit Hilfe von Angaben aus sekundären Quellen und weiteren Erwägungen, eine Auseinandersetzung mit der primären verdrängen zu können, wie das Folgende zeigt.]
Mit weit größerem Recht könnte einer behaupten, daß selbst der zum Vernunftrepublikaner geläuterte Thomas Mann insgeheim ein Antisemit geblieben sei – seine Tagebücher, gerade die aus der Zeit des III. Reiches, sprechen, was das angeht, eine deutliche Sprache. In den Goebbels-Tagebüchern findet sich ein Eintrag aus dem Jahr der Machtergreifung, worin der Autor nach erneuter Lektüre der „Buddenbrooks“ seiner Begeisterung Ausdruck verleiht und die Absicht kundtut, den ins Exil gegangenen Autor zur Rückkehr zu überreden. Können Sie sich an die Umfrage erinnern, die 1975 gelegentlich des einhundertsten Geburtstages Thomas Manns unter westdeutschen Literaten durchgeführt wurde ? Die nahezu ungeteilte Mißgunst, die dem Verfasser des Zauberbergs von den nachgeborenen Kollegen zuteilt wurde, spricht eine deutliche Sprache. Was Thomas Manns nicht durchweg ruhmreiche Rolle während des II. Weltkrieges im US-Exil anbelangt, so ist zu sagen, daß Thomas Mann als Emigrant den Weg, den das gebildete deutsche Bürgertum in der Nachkriegszeit beschritten hat, in seinem Exil schon ein wenig früher angetreten hat. In seinen frühesten literarischen- kulturellen Äußerungen ist der deutsche Antideutschismus nichts anderes, als die Ideologie der ehemals protestantischen-nationalen Bildungselite, die mit einigen Jahren Abstand zum Ende des Dritten Reiches neue Ufer zu erreichen hoffte. Wie repräsentativ dieser Gesinnungswandel war, läßt sich besonders gut an den Biographien bestimmter deutscher Personnagen beobachten, deren Weg sie von der Paulskirchenbewegung/Gesamtdeutschen Volkpartei zur Verzichtspolitik der Sozialliberalen führte. Der Wirtschaftshistoriker Ritschl, Ururenkel des Bonner Altphilologen und Doktorvater Friedrich Nietzsches, ist mit seinen Äußerungen zur EURO-Rettungspolitik leider nur zu repräsentativ für die Tendenz, die ich meine – und dieser Mann ist, wie gesagt, Holz vom Stamme ältesten deutschen Kulturbürgertums. Was die antideutschen Psychopathen der Jetztzeit anbelangt, so kann man davon ausgehen, der nahezu jeder, der heute „Bomber-Harris, do it again !“ krakeelt, einen Obersturmbannführer o.e.ä. als Vorfahren hatte.
[vO: Und mit diesem Beitrag verabschiedet sich der Forist Leo Naphta SJ, vormaliger Settembrini.]