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Globaler Neoliberalismus 6 (10. März ’15)

Als umgreifenden Begriff für das gesamte ökonomische System, das sich am Ende des 20. Jahrhunderts vollendet hat, wählte ich „Globaler Neoliberalismus“ und benannte die Artikel auch danach. – Gewiß ist der Neoliberalismus ein Teil des Ganzen. Er bezeichnet eine sich auf die Angebotsseite konzentrierende Ökonomie samt den politischen Kräften, die dies unterstützen; eine angemessene Entlohnung der Werktätigen gerät dabei aus dem Blick. Das Investmentgeschäft wird mit dem Begriff Neoliberalismus jedoch nur unzureichend erfaßt, so daß man im Blick darauf meist von Finanzkapitalismus spricht, der die Geldkapitalisten begünstigt. Um beide Aspekte zusammenzufassen, wäre ein Oberbegriff sinnvoll, für den mir „Monopolkapitalismus“ am geeignetsten zu sein scheint. Es wäre also noch treffender gewesen, die Artikel mit „Globaler Monopolkapitalismus“ zu betiteln. Es ist nur fraglich, ob dies allgemeinverständlich gewesen wäre, denn es gibt noch keinen allgemein anerkannten Oberbegriff, und auch der „Monopolkapitalismus“ könnte dahingehend mißverstanden werden, daß er nur die Produktion erfaßt. Doch diese ist inzwischen mit dem Investmentgeschäft zu einem einzigen Monopolkomplex verflochten, wie der vorangegangene Artikel, „Globaler Neoliberalismus 5“, zu zeigen versucht hat.

Das gesamte monopolkapitalistische System, wie es in den Artikeln dieser Reihe dargestellt worden ist soll an dieser Stelle noch einmal zusammengefaßt werden: Man denke sich einen Kreis, der das Investitionskapital darstellt; dessen Mittelpunkt bildet die Zentralbank. Die Peripherie des Kreises wird von einem Ring gebildet, der die in Aktiengesellschaften organisierte Produktion darstellt, in die das Investitionskapital fließt, um mit Gewinn in den Kreis zurückzuströmen und – immer wieder neu an allen möglichen Punkten – wieder in den Ring der Produktion gelenkt zu werden. Um diesen Ring herum liegt ein weiterer, die nicht in Aktiengesellschaften organisierte Produktion, die dem Investment nur in sehr eingeschränktem Maße zur Verfügung steht; in diesem äußeren Kreis ist die nationale Bourgeoisie beheimatet. Schwierig ist es, in dieses System den Konsumbereich einzuzeichnen, der sich nur ganz außen befinden kann, wobei jedoch der Eindruck erweckt wird, die in Aktiengesellschaft organisierte Produktion hätte nur durch den Bereich der nationalen Bourgeoisie hindurch Zugang dazu, was ja keineswegs zutrifft. – Die Werktätigen halten sich in den Ringen der Produktion sowie im Bereich des Konsums auf, gewöhnlich aber nicht im Kreise des Investmentkapitals.

Natürlich ist das Investmentgeschäft an einer florierenden Wirtschaft interessiert, da eine solche höhere Gewinne verspricht; während einer Flaute sind nur wenige Möglichkeiten lohnender Investition zu finden. Um also die Wirtschaft innerhalb des beschriebenen Systems „anzukurbeln“, vergrößert die Zentralbank die Geldmenge, um die Produktion mit zusätzlichen Geldern zu erhöhen. – Man erkennt, wie Finanzkapitalismus und angebotsorientierter Neoliberalismus ineinandergreifen. Gleichwohl werden sie ihr Ziel verfehlen, da die Geldmengenvergrößerung wiederum nur den Prozeß der Vermögenskonzentration beschleunigen wird, wie im ersten Artikel dieser Reihe deutlich geworden ist: Eine Erhöhung der Produktion ist nur sinnvoll, wenn das Produzierte auch konsumiert wird, doch auf Grund der Vermögenskonzentration bzw. der zunehmenden Umwandlung von Mitteln der Werktätigen für ihren Lebensunterhalt in Investitionskapital, wird der Konsum geringer statt zuzunehmen. – Dies ruft die Neue Linke auf den Plan. Sie fordert beständig mehr Geld für diejenigen, die selbst keine Einkünfte erzielen, so daß die von ihrer in der „Sozialindustrie“ tätigen Klientel Betreute mehr zu konsumieren vermögen, was sich systemstabilisierend auswirkt, auch weil die so zufrieden Gestellten ein eigenständiges Interesse daran haben werden, die bestehenden Verhältnisse aufrecht zu erhalten. Benachteiligt werden dadurch die Werktätigen und die Angehörigen der nationalen Bourgeoisie.

*

Die Gesellschaft besteht nicht allein aus dem ökonomischen Aspekt; das Leben wird erst reich jenseits finanzieller Fragen. Doch nicht nur in Produktion und Konsum bestimmt der globale Monopolkapitalismus immer weitgehender alles Geschehen, auch die gesamte Kultur beeinflußt er. – Dem voran ging eine – teilweise durchaus sinnvolle – Standardisierung durch die industrielle Produktionsweise: So wurden beispielsweise Schrauben und Muttern nicht mehr als individuelle Paare angefertigt, sondern nach einer Norm, so daß sie sich beliebig kombinieren ließen, zumindest überall dort, wo man dasselbe Maßsystem gebraucht; auch dieses wurde vereinheitlicht.

Da das Bürgertum – zumindest in Westeuropa – während des 19. Jahrhunderts nicht nur die Politik weitgehend bestimmte, sondern auch das gesellschaftliche Leben, konnte die Kunst davon nicht unberührt bleiben, und geradezu miteinander wetteifernd entwickelten sich ihre verschiedenen Zweige. Zwar wirkte das Aufkommen des modernen Geistes sich gewiß auch immer wieder ihnen abträglich aus, doch dies zeigte sich allenfalls in Ansätzen, die man noch übersehen konnte, weil die Ströme der kulturellen Überlieferung nach wie vor reichlich flossen.

Gleichzeitig mit dem Monopolkapitalismus des 20. Jahrhunderts setzte ein rascher Verfall auf dem Gebiet der Kunst ein. Als Beispiel sei darauf verwiesen, daß Malewitschs* „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund (1915)“ sich nur übertreffen ließ von einem „Weißen Quadrat auf weißem Grund (1919)“. Bezeichnender Weise bediente sich Malewitsch am Stil der Renaissance, als er schließlich zur gegenständlichen Malerei zurückkehrend sich selbst noch einmal portraitierte (1933): Die geistige Potenz zur Hervorbringung eines eigenen künstlerischen Ausdrucks fehlte der Zeit, deren Kind auch Malewitsch war. – Die Suche nach ideologisch fundierten Alternativen blieb letztlich fruchtlos: Der Sozialistische Realismus des 20. Jahrhunderts überzeugte noch weniger als der bürgerliche Nationalismus, der im 19. Jahrhundert schon für reichlich Kitsch gesorgt hatte, nicht allein auf dem Gebiet der Historienmalerei.

* Kasimir Malewitsch; geb. 1878, gest. 1935

Dem „Schwarzen Quadrat“ vergleichbare Anzeiger des Niedergangs der Kunst bildeten „Dada“ (ab 1916) und „Zwölftonmusik“ (ab ca. 1920): Sinnlose Wortaneinanderreihungen und eine Dodeka[ko]phonie, die man nicht anhören mag. – Größte Kunstwerke sollen ihre Bedeutung nicht einmal im Angesicht des Todes verlieren. Doch was im 20. Jahrhundert Geschaffene erhöbe die Seele noch so hoch über die Niederungen des Alltäglichen? Der Verfall aller Zweige der Kunst ist unübersehbar. So ist im Tanz an die Stelle der koordinierten Bewegung mehrerer das unkontrolliert erscheindende Zucken einzelner getreten.

Den Platz der auf Offenbarung gegründeten Religion beansprucht der Dialog der vereinten Vertreter des Relativismus, welche den Wahrheitsanspruch, der doch erst wirklich Toleranz ermöglicht, verfemen. Was ist das Ziel des Dialogs? Soll etwa ein gemeinsamer Nenner den künftigen Welteinheitsglauben darstellen, dessen verschiedene Zähler dann die einst unabhängig voneinander existierenden Religionen bilden?

Damit nicht stets Anspannung herrsche, soll Unterhaltung auf heitere Weise zerstreuen, ohne den Anspruch auf allzuviel Sinnhaftes zu erheben. Doch welcher am Ende des 20. Jahrunderts entstandene Schlager ließe sich noch mit z.B. „Mein kleiner, grüner Kaktus“ von 1934 vergleichen? Was als Unterhaltung ausgegeben wird, soll nun stets die Leidenschaften aufpeitschen, vornehmlich die libidinösen. Das Pendant bildet darum auch nicht seelische Erhebung, sondern das Einnehmen von Geld, auf welche Weise auch immer, denn man meint, das Geld erst ermögliche Vergnügungen. So erscheint es nur konsequent, wenn alle Bildung auf verwertbare Fertigkeiten reduziert werden soll. Daher forderte der bundesdeutsche Wirtschaftsminister und Vizekanzler im Februar 2015, ökonomische Bildung im Lehrplan zu verankern und fragte gleichzeitig, „ob es wirklich so wichtig ist, Latein und Griechisch weiter zu können“. Dies zielt auf Kappung der kulturellen Wurzeln. Diesem Anliegen entsprechend wird in Berlin vom Schuljahr 2015/2016 an kein Geschichtsunterricht mehr in den Klassen 5 und 6 erteilt. Wozu sollte die Beschäftigung mit der Vergangenheit auch gut sein, wenn es doch nur gilt, „richtig Kohle zu machen“?

Die Umgangsformen verlottern. Auch das äußere Erscheinungsbild läßt immer mehr zu wünschen übrig, da man sich sonntags nicht anders kleidet als werktags, vorzugsweise in Jeans und T-Shirt, ohne Rücksicht auf Lebensalter und Geschlecht. – Das ist nicht einfach Nachlässigkeit. Man erkennt vielmehr, daß den Menschen die Selbstachtung fehlt. Nicht erstaunlich, wenn sie sich nur über die Menge des ihnen zur Verfügung stehenden Geldes definieren und nicht einen ganz individuellen Platz innerhalb der Gesellschaft einzunehmen suchen, sondern eine – gemessen an den Einkünften – möglichst vorteilhafte Position. An jeden ergeht damit die Aufforderung, sich in allen Lebenslagen „möglichst teuer zu verkaufen“; man bietet nicht mehr nur die Arbeitskraft feil, sondern sich selbst.

Wie wird sich derjenige aber verhalten, der sich nicht mehr als Ebenbild des Schöpfers versteht, sondern als einen zufällig entstandenen Zellverbund, der entweder sich so lange vergnügt, wie er existiert, nur darauf aus, dafür genügend Geld zur Verfügung zu haben, oder sich allein um die Vergrößerung seines Besitzes sorgt? – Aufmerksame Beobachter bemerkten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Verschwinden kultureller Vielfalt. „Das Artensterben paart sich mit dem Kultursterben, und die einst abwechslungsreichen, regional geprägten Kulturlandschaften weichen einer Weltzivilisation… die…keine Grenzen mehr kennt, dafür aber den Profit.* Nicht nur die Dialekte verschwinden; die einzelnen Sprachen gleichen sich einander an und bilden nur noch verschiedene Versionen des einen Pidgin-Englisch.

* Norbert Borrmann, die grosse gleichschaltung. Reihe kaplaken 38 (2013), Das große Kulturensterben

 

 

 

 

 

 

6 Kommentare zu „Globaler Neoliberalismus 6 (10. März ’15)“

  • Unke:

    Sehr schön auf den Punkt gebracht; bis auf die letzten beiden Absätze*, die sind optimierungsfähig 😉
    * Z.B. zum Verschwinden von Dialekten: das sehe ich nicht so. Bin immer wieder fasziniert, welch unterschiedliche Mundarten es im Dreieck Mainfranken-Aschaffenburg-Bergstraße gibt. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die künstliche Verteuerung von Energie (vgl. die Besteuerung von Benzin) bei gleichzeitigem Rückgang verfügbarer Einkommen dazu führt, dass die Mobilität insbes. auf dem Land abnimmt. Sehr schön zu beobachten in Frankreich.
    .
    P.S. Was noch fehlt ist ein Abschnitt zu den darstellenden Künsten (Theater etc.).

  • virOblationis:

    @ Unke

    Mir kam es nur darauf an, mit wenigen groben Strichen die Tendenz zur kulturellen Verödung anzudeuten. Gewiß hätte sich der Zustand der Bühne ebenfalls dazu geeignet. Auch hätte ich gern noch auf die Baukunst verwiesen, doch sah ich mich zur Beschränkung genötigt.

    Was die Sprache – abgesehen von allen Anglizismen – betrifft, will ich als Beispiel die eigene Familie anführen: Während meine Eltern noch die Mundart ihrer Heimatregion beherrschten, erinnert meine Sprechweise lediglich noch durch einen Akzent daran, der bei der nachfolgenden Generation kaum mehr wahrnehmbar ist.

  • Unke:

    @vO
    Zur Sprache: und Sie schließen von Ihrer Familie -d.h. einem Einzelfall- auf die ganze Population?
    Ich bin immer wieder überrascht. Selbst bin ich auch ein Fall von Nichtmundartler, das liegt -ganz banal- an der Binnenwanderung meiner Eltern; wir waren sozusagen sozial und kulturell Versprengte.
    Ansonsten kann ich nur von meinen Erfahrungen berichten – mein letzter längerer berufllicher Aufenthalt in Berlin z.B.: die Berliner berlinern tatsächlich! Kaum zu glauben, wa? Und sie schämen sich dafür kein bisschen!
    Was ich damit nur sagen will: die Klage vom Verlust des Dialekt ist mindestens 50 Jahre alt – und sie hat sich nicht bewahrheitet. Dabei finde ich das Thema durchaus interessant, denn m.E. ist seit einigen Jahrzehnten durchaus ein gewisser Stolz zu bemerken, wenn sich Einheimische „ihres“(!) Idioms bedienen. (Dem muss übrigens nicht entgegenstehen, dass man sich geschliffen im Schriftdeutsch auszudrücken vermag.)

  • virOblationis:

    Ich schließe nicht vom Individuellen auf das Allgemeine, sondern versuche ein – nach meiner Erfahrung – allgemein verbreitetes Phänomen mittels eines typischen Einzelfalles zu veranschaulichen. – Wo wird beispielsweise noch außerhalb des Ohnsorg-Theaters Hamburger Platt gesprochen? Welches Kind liefe noch mit einem Rummelpott, statt sich zu „Halloween“ zu verkleiden:
    Fru, maak de Dör op! De Rummelpott will rin.
    Dor kümmt een Schipp ut Holland. Dat hat keen goden Wind.
    Schipper, wulltu wieken? (weichen, hier: sich entfernen)
    Feermann, wulltu strieken? (streichen, hier: sich umherbewegen)
    Sett dien Segel op de Top
    un geef mi wat in’n Rummelpott!

  • virOblationis:

    @ Unke
    Daß jemand die so offenkundige und allgemein anerkannte Tatsache des Sprachensterbens und innerhalb dieses Prozesses natürlich auch der Dialekte einfach auf seine „[eigenen] Erfahrungen“ sich berufend in Abrede stellt, dafür fehlen mir beinahe die Worte. – Wenn dabei jedoch die eigene Position mit subjektiver Erfahrung begründend [argwöhnisch] gefragt wird, ob ich wohl einen Einzelfall verallgemeinere, dann macht mich dies fast noch ratloser.

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