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Walter Ulbricht, „Die Legende vom ,deutschen‘ Sozialismus (Berlin 1946)“

von virOblationis

Wer den Verfassernamen liest und ein grauenhaftes Propagandamachwerk erwartet, wird nicht enttäuscht. So behauptet der Autor, daß deutsche Truppen sowjetische Kureinrichtungen auf der Krim nur deshalb zerstört hätten, damit verborgen bliebe, was für großartige Einrichtungen die UdSSR ihren Werktätigen zur Erholung bietet: „Solche Sanatorien, solche Kurorte waren natürlich den deutschen Plutokraten bis in den Tod verhaßt.* Zwar gab es in Deutschland ebenfalls Erholungsheime etc., doch all dies diente in Wahrheit nur der Kriegsvorbereitung. „[Fritz] Thyssen“ aber, einer der deutschen „Kohlen- und Stahlkönige“ hat ein „Raubvogelgesicht“, das, der Natur sei Dank dafür, „seinen Charakter treffend wiedergibt“.** – Ulbrichts Buch wurde angeboten zum Schleuderpreis von einer Reichsmark, für die man ohnehin kaum etwas anderes kaufen konnte. Da es jedoch bereits im Jahr des Erscheinens in einer weiteren Auflage nachgedruckt wurde, fragt man sich unwillkürlich, ob die Genossen es nicht in großer Stückzahl kostenlos verteilten.

* Mit „Kraft durch Freude“ in den Weltkrieg, „Zurück ins barbarische Zeitalter!“

** Dreihundert Rüstungsindustrielle und Bankherren suchten einen Ausweg, Die Konferenz der Dreihundert; Fritz Thyssen; geb. 1873, gest. 1951

Ulbricht wendet sich an Deutsche, die das Dritte Reich persönlich erlebt hatten, und es hätte schon einiger Beredsamkeit bedurft, um ihnen klar zu machen, daß sie ihrer eigenen Erfahrung nicht trauen durften; stattdessen erschöpft sich das Buch in Wiederholungen von Parolen, die mit Hilfe spärlichen Datenmaterials begründet werden sollen, was aber nur unzureichend gelingt. – Als Literatur werden im Anhang Marx, Engels, Lenin und Stalin angeführt; eine interessante Ausnahme bildet das „Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften“, das durch eine Leerzeile von der einwandfreien Literatur abgesetzt wird.

Dennoch bietet Ulbrichts Buch einige interessante Aspekte, nicht etwa nur den, daß man sich angesichts der Aneinanderreihung propagandistischer Plattheiten fast in die Gegenwart versetzt wähnt. Ulbrichts Ausführungen zeigen vielmehr – gewiß unbeabsichtigt, da ideologisch wenig korrekt, – daß im nationalsozialistischen Deutschland nicht ausschließlich unter der Vorgabe der Gewinnmaximierung produziert wurde. Ulbricht verweist auf Rüstung als Kriegsvorbereitung, die zum Verschwinden der Arbeitslosigkeit geführt habe, während das Lohnniveau der Werktätigen noch unter den Standard der Weimarer Republik abgesenkt worden sei. – Ob die Steigerung der Rüstungsproduktion tatsächlich so gewaltig war, sei dahingestellt. Die von Ulbricht angeführten Zahlen vergleichen die Zeit vor und nach 1933; die der Weimarer Republik durch den Versailler Vertrag zugestandene Reichswehr bildete jedoch nur eine sehr kleine Streitmacht.

Hitler kam an die Regierung, da er „sich den plutokratischen Konzernherren mit Haut und Haaren verkauft und zur Treue verpflichtet hatte.“* Einige Seiten weiter wird das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ von 1934 zitiert, in dessen erstem Paragraphen es heißt: „Im Betrieb arbeiten die Unternehmer als Führer des Betriebes, die Angestellten und Arbeiter als Gefolgschaft zur Förderung des Betriebswerkes und zum gemeinsamen Nutzen von Volk und Staat.“** Den Werktätigen werden ihre bis dahin geltenden Rechte genommen; aus dem Betriebsrat wird ein beratendes Vertrauensmännergremium.*** – Doch das Letztere ist nur eine Seite des Ganzen. Sehr aufschlußreich erscheint die Formulierung im Gesetzestext, daß es nicht allein um den Gewinn geht, die „Förderung des Betriebswerkes“, sondern auch um den „gemeinsamen Nutzen von Volk und Staat“. Dies verweist noch einmal auf die politische, nicht allein ökonomische Zielsetzung in bezug auf die Wirtschaft. Damit der Verfasser des Buches damit nicht die Grundlage des Marxismus-Leninismus verläßt, muß er postulieren, daß die Politik von der die gesamte deutsche Wirtschaft beherrschenden Rüstungsindustrie dominiert wurde, so daß es in Wahrheit deren ökonomische Ziele waren, die die Politik bestimmten, [während der Gesetzestext dies nur verschleiern sollte, damit die deutschen Werktätigen um so williger in den Krieg marschierten].

* Dreihundert Rüstungsindustrielle und Bankherren suchten einen Ausweg, Die Vereinbarungen zwischen Rüstungsindustriellen und Hitlerpartei

** Arbeiter oder Sklave?, Die Unternehmer werden zu „Betriebsführern“ ernannt

*** s. ebd.

Es wird eine Liste der einflußreichsten Männer der deutschen Wirtschaft angeführt, die jedoch die These eines Dominierens der Rüstungswirtschaft nicht zu tragen vermag,* auch wenn es heißt: „Die Tatsachen beweisen, daß im Hitlerstaat die aggressivsten räuberrischsten Rüstungsplutokraten die Kommandostellen in Wirtschaft und Staat beherrschten.“** So wird, um die ideologisch vorgegebene Wirklichkeit doch noch einzuholen, die Schwerindustrie pauschal mit der Rüstungsindustrie gleichgesetzt; kommen Banken hinzu, so rundet sich das Bild ab, da deren Kredite schließlich für die Rüstungsproduktion eingesetzt werden können. Wird beispielsweise die Deutsche Wollwarenmanufaktur A.G. erwähnt, so konnte sie dem Wehrwirtschaftsführer Günther Quandt*** ja dazu dienen, Soldatenstrümpfe zu stricken. – Dies alles stellte nicht etwa eine Reaktion auf den Versailler Vertrag o.ä. dar, sondern beruhte auf einem „Welteroberungswahn“****. „So wurde Hitlers Machtübernahme von denselben imperialistischen Kriegstreibern vorbereitet, die Deutschland schon in das Unglück des ersten imperialistischen Krieges (sc. 1. Weltkrieg, 1914 – 1918) getrieben hatten und die schuldig waren an der Inflation sowie an der Weltwirtschaftskrise 1929/1932.“***** Man fragt sich bloß, ob sie nicht etwa auch schon den Sündenfall im Paradiese verursacht haben.

* Die Soldaten fielen, die Gewinne stiegen, Mehr als 10fache Aufsichtsräte

** Wer bestimmte in Wirtschaft und Staat?, Die Legende von der „Planwirtschaft“ – kursiv im Original

*** s. ebd.; Günther Quandt; geb. 1881, gest. 1954; Wehrwirtschaftsführer seit 1937

**** Dreihundert Rüstungsindustrielle und Bankherren suchten einen Ausweg, Die „neuen“ Männer mit den alten reaktionären Gewohnheiten

***** Dreihundert Rüstungsindustrielle und Bankherren suchten einen Ausweg, Die letzten Gespräche vor der Übernahme der Regierung – kursiv im Original

Die von Ulbricht angeführte Liste der einflußreichsten Männer der deutschen Wirtschaft bezieht sich auf Aufsichtsratsposten in Aktienunternehmen, die – dies wird deutlich – im Gegensatz zur Gegenwart von Vertretern besetzt wurden, die aus der nationalen Bourgeoisie hervorgegangen waren, einer einheitlichen Riege, der – zumindest theoretisch – von der Politik noch Vorgaben gemacht werden konnten, die das Prinzip der Gewinnmaximierung beschränkten, da keine supranationalen Institutionen dies verhinderten. In einer globalen Wirtschaft fließen in die Aktienunternehmen Investitionen von irgendwoher, und dorthin gehen auch – möglichst große Teile der – Gewinne zurück, und wiederum dort wird auch entschieden, ob noch weiterhin zu investieren lohnenswert erscheint oder ob ein anderer Standort vorzuziehen ist. – Einen Nationalstaat unter solchen Bedingungen aufrechtzuerhalten, scheint unmöglich; ihm fehlt die nach eigenem Gutdünken zu gestaltende wirtschaftliche Basis. Wer nach einem Nationalstaat verlangt, um das Sozialsystem oder das Staatsvolk zu erhalten, wird kaum umhin kommen, die heimische Wirtschaft aus der globalen Vernetzung herauszulösen; vor allem Investitionsschutzabkommen wären – nach lateinamerikanischem Vorbild – zu kündigen. Anschließend könnten die Aktiengesellschaften vorübergehend verstaatlicht werden, um gleichzeitig eine tiefergehende ökonomische Umstrukturierung vorzunehmen. Die Alternative scheint darin zu bestehen, in der globalen Welt aufzugehen, während sich andere Bereiche, wie z.Z. vor allem Rußland und wohl auch Lateinamerika, herauslösen. Am Ende bliebe Europa eine Zukunft als neuer Hinterhof, backyard, der USA, die eine privilegierte Stellung innerhalb der globalen Welt einnehmen und eine solche auch ihren Lieblingen gewähren, wozu Deutschland aber ganz gewiß nie zählen wird.

 

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