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Möglichkeit und Wirklichkeit

von virOblationis

Am Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, also in der Endphase der alten BRD, fiel mir auf, daß – von „fortschrittlich“ Gesinnten der im Entstehen begriffenen Neuen Linken – immer wieder gefordert wurde, sozusagen allen alles möglich zu machen. Nicht etwa, daß man bereits gemeint hätte, Frauen sollten Männer sein können oder Männer Frauen; nein, aber es hieß beispielsweise, man solle doch an einem historischen Bauwerk außen einen Fahrstuhl anbringen, damit auch Gehbehinderte mühelos alle Etagen erreichen könnten; so sollten ihnen dieselben Möglichkeiten eröffnet werden wie denjenigen mit zwei gesunden Beinen.

Damals war mir noch weitgehend unbekannt, daß bereits von antiken Philosophen der grundlegende Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit gründlich durchdacht worden war. Platon* hatte allein das immaterielle Sein als wirklich verstanden und alles Werden davon strikt unterschieden; letzteres sei der unablässigen Veränderung unterworfen und von der [Philosophie als] Wissenschaft nicht zu erfassen. Platons Schüler Aristoteles** wich von dieser Linie ab, indem er das Empirische, das Veränderliche, in die Philosophie einzubezog. Das platonische Sein verlegte er sozusagen in die Dinge hinein und bezeichnete deren stofflich-unstoffliche Wirklichkeit als energeia: Silber hatte z.B. die immaterielle Gestalt einer Opferschale angenommen, konnte aber wieder zu etwas anderem umgeformt werden. Was an den Dingen veränderlich blieb, die Materie, charakterisierte Aristoteles als dynamis, Möglichkeit.

* geb. 427, gest. 347 v. Chr.

** geb. 384, gest. 322 v. Chr.

Unternehmen wir in Gedanken einen Sprung ins 19. Jahrhundert, wo Möglichkeit und Wirklichkeit, griechisch dynamis und energeia, lateinisch potentia und actus, in der ökonomisch-philosophischen Lehre des Marxismus eine bedeutende Rolle spielen; in philosophiegeschichtlichen Darstellungen mag Marx* zwar fehlen oder als unbedeutende Randfigur der Geistesgeschichte erscheinen, doch hat er die Moderne so nachhaltig beeinflußt wie kaum ein anderer Denker. Insofern bewahrheitete sich, was er 1845 schrieb: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpreti[e]rt. Es kömmt d[a]rauf an, sie zu verändern.“** – Geld stellt für Marx pure Möglichkeit zur Verwirklichung in beliebigen Waren dar. Er unterscheidet das konkret in seiner „Leiblichkeit“ erscheinende Geld, das auch wieder eine Ware bildet, von dessen „ideell[er]…Funktion…als alleinige Wertgestalt (oder allein adäquates Dasein des Tauschwerts) allen (anderen) Waren (als bloßen Gebrauchswerten) gegenüber…“***

* Karl Marx; geb. 1818, gest. 1883

** Die elfte der „Thesen über Feuerbach“; veröffentlicht 1888 von Friedrich Engels (geb. 1820, gest. 1895) als Anhang zur revidierten Fassung von „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der deutschen Philosophie (1886)“.

*** „Das Kapital I (4. Aufl. 1890)“, I. Abschnitt, 3. Kapitel, 3. Geld – kursiv und runde Klammern von mir, vO.

Da Marx das Geld an dieser Stelle gerade von seiner Funktion her und damit nicht als Ware begreift, wäre es klarer gewesen, wenn er das – von mir in runde Klammern gesetzte – „anderen“ etc. weggelassen hätte: Es geht hier um das Geld in seiner „ideell[en]…Funktion…als alleinige Wertgestalt allen Waren gegenüber…“ Das Geld stellt die vielfältige Möglichkeit dar, die sich in Waren beliebig verwirklichen kann: Geld als dynamis, Ware als energeia. Von daher betrachtet gewinnt die „Metamorphose der Waren“ nach Marx einen tieferen Sinn: „Der Austauschprozeß der Ware vollzieht sich also in zwei entgegengesetzten und einander ergänzenden Metamorphosen – Verwandlung der Ware in Geld und ihre Rückverwandlung aus Geld in Ware. … Der Austauschprozeß der Ware vollzieht sich also in folgendem Formwechsel: Ware – Geld – Ware. W – G – W.“* – Ob allerdings tatsächlich ein Kreislauf W – G – W existiert, scheint mir fraglich: Geld (als Tauschwert) und Ware stehen einander gegenüber, doch sie sind verschieden. Während das gestaltlose Geld dazu bestimmt ist, immer wieder in Waren eingetauscht zu werden, in ihnen sozusagen eine spezifische Form anzunehmen, sind die Waren letztlich zum Verbauch bestimmt und nicht dazu, fortwährend nur gegen Geld (oder andere Waren) eingetauscht zu werden. Insofern wäre eher von einem Modell G(W) – W bzw. W – G(W) auszugehen, das dadurch in beständiger Veränderung ist, daß W verbraucht wird und neuproduziertes W an seine Stelle tritt.

* „Das Kapital I (4. Aufl. 1890)“, I. Abschnitt, 3. Kapitel, 2. Zirkulationsmittel a) Die Metamorphose der Waren

Wie Aristoteles denkt noch Marx von der Wirklichkeit her und ordnet ihr die Möglichkeit zu: Die Ware wird zwar zu Geld, doch das Geld wieder zur Ware, denn deren bedarf die materielle Existenz des Menschen. Dem entsprechend verfuhr die Alte Linke und konzentrierte sich auf die Produktion von Produktionsmitteln, so daß sie vor allem die Schwerindustrie förderte und die Konsumgüter hintan stellte. – Für die Neue Linke gilt dies nicht mehr: Nachdem eine ungeheure Erhöhung der Produktivität im Zuge der Erfindung der EDV erfolgte, erneuerte sie den alten Irrglauben, es sei doch in der Welt stets genug für alle Menschen da, es müsse nur anders, nämlich gerechter, verteilt werden: Eine derartige Meinung vertrat bereits Philippos von Opous*, ein Zeitgenosse des Aristoteles und Angehöriger der Athener Akademie wie er, der Sekretär Platos, der dessen „Gesetze“ aus dem Nachlaß herausgab und mit einem Anhang versah, der sog. „Epinomis“: Es würde stets genügend Nahrung für alle geben, wenn nicht Unwetter** dies behinderten.***

* gest. nach 347 v. Chr.

** vgl. ungerechte Verteilung

*** Epin. 979 a

Wenn ich solches lese, fällt mir nur immer wieder dazu ein, was einer meiner Lehrer einst anmerkte: „Die Güter dieser Welt sind begrenzt, die Wünsche des Menschen nicht.“ – Ganz im Gegensatz dazu steigert sich der neu-linke Irrglaube zu der Meinung, es sei nicht nur stets genug für alle vorhanden, so daß die Lebensgrundlage aller gesichert werden könne, wenn man nur wolle, sondern es ließen sich unbegrenzt Wünsche erfüllen. M.a.W. es geht der Neuen Linken nicht um die bloße Abschaffung der Armut, sondern letztlich um die Herstellung vollkommener Gleichheit aller Menschen, indem jedem einzelnen dieselbe Fülle von Möglichkeiten – mittels ausreichender Geldmenge – zur Verfügung zu stellen sei, so daß die Unterschiede durch Herkunft oder natürliche Beschaffenheit aufgehoben würden. Es wird angestrebt, eine soziale und biologische Gleichheit der Menschen herzustellen; letztere leugnet einfach die Unterschiede der intellektuellen Begabung und verlangt nach Inklusion; die Leugnng der biologisch konstituierten Geschlechter wird ideologisch überhöht durch „Gender studies“.*

* vgl. zu letzterem die Leugnung menschlicher Racen

Geld erscheint fast wie ein Zaubermittel, durch das alle Wünsche wahr, alle Möglichkeiten zu beliebiger Verwirklichung eröffnet werden. Und um eine ausreichende Menge Geldes zur Verfügung zu haben, sei die ungerechte Verteilung des Reichtums zu beseitigen und das, was Reiche horteten, ohne es für sich persönlich zu verbrauchen, an alle Bedürftigen auszuschütten; man ignoriert einfach das Investitionswesen als Kern des globalen Monopolkapitalismus und fordert das Geld der Banken in die Sozialkassen umzuleiten, nicht selten in Straßenschlachten, die als offener Aufruhr gelten würden, wenn die politischen Vertreter der Sozialindustrie nicht Teil des herrschenden Machtkartells wären, da sie einerseits mit ihrer Ideologie als Opium* und andererseits mit ihren Schlägertrupps als Knüppel das Volk von der Suche nach einer Systemalternative abbringen sollen.

* Anspielung auf die marxistische Verleumdung der Religion als „Opium für das Volk“

So aber erscheint es verständlich, daß einfach nur nach noch mehr Geld gerufen wird, wenn z.B. die Schulabgänger zu einem nicht unbeträchtlichen Teil weder lesen noch rechnen können oder wenn den Kommunen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ausgehen, die sie für soziale Zwecke, d.h. vor allem für immer mehr „Refugees“, verbrauchen und deren Anzahl sie – aus verschiedenen Gründen – nicht reduzieren, sondern gern noch erhöhen wollen. Die politischen Vertreter der Kommunen übersehen, daß man Geld eben nicht beliebig zur Bedürfnisbefriedigung verwenden kann, da es nur zum Tausch mit der Menge des ihm gegenüberstehenden Warenangebotes dient. Wenn kein Laib Brot mehr vorhanden ist, mag man noch so viel Geld dafür bieten; der Hunger wird nicht gestillt werden. Unmöglich? Man denke nur an das Inflationsjahr 1923! – Und wenn erst überall Wohncontainer oder sogar aparte neue Unterkünfte stehen, lassen sich weitere Flächen nicht mehr requirieren.

 

4 Kommentare zu „Möglichkeit und Wirklichkeit“

  • Julian Bräuner:

    Vielen Dank Ihnen wieder einmal für Ihren Fleiß!
    Korrekturen:
    – Der Tauschwert und seine allgemeingültige Gestalt Geld sind in Ihrer Analogie unbedingt als energeia aufzufassen und eben nicht als dynamis.
    – Marx sprach von der Religion als dem Opium des Volkes,- erst Lenin denuncierte sie als Opium für das Volk. Er nahm der marxschen Formulierung damit die Doppeldeutigkeit und stellte die Religion als Priesterbetrug ( an den Gläubigen ) dar.

    Im Zusammenhang Ihres Textes wäre ein Hinweis auf die heuten gängige Methode der Geldschöpfung angeraten,- vielleicht mit einer Verknüpfung zu einem einschlägigen Text hierzu auf der Seite der Wissensmanufaktur. Da wird dann die Auflösung der Dualität von energeia und dynamis deutlich und es kommt der entscheidende Faktor Macht in den Blick.

  • virOblationis:

    @ Julian Bräuner

    Die lauter verschiedenen Waren mit ihrer jeweiligen Eigenart, die eben nicht veränderlich ist, zumindest nicht ohne weiteres, denn sie sind doch so geschaffen, daß sie sich gebrauchen bzw. verbrauchen lassen – Dies läßt die Waren in meinen Augen vergleichbar erscheinen mit dem verwirklichten Zustand nach Aristoteles, der energeia; die Bronze, die gegossen worden ist und nun die Gestalt einer Statue angenommen hat; sie soll nicht verändert werden, sondern bleiben, was sie ist, und z.B. dem Kultus dienen.

    Geld hat keine bestimmte Gestalt; es ist , wie Sie schreiben, „allgemeingültige Gestalt“ des „Tauschwert[es]“. Dies macht es m.E. vergleichbar mit der aristotelischen dynamis, mit dem Möglichen, das ganz unterschiedliche, unveränderliche Formen annehmen kann. Ebenso kann Geld in ganz verschiedene spezifische Waren eingetauscht werden.

    N.B. Beim „Opium für das Volk“ habe ich auch nicht ausdrücklich „Marx“ geschrieben, sondern „marxistisch(e Verleumdung)“, was man in weiterem Sinne verstehen mag. Es ging mir darum, dem Unkundigen anzudeuten, in welchem Sinne der mit dem Stern markierte Satz zu verstehen ist. – Vielen Dank aber für die Präzisierung.

  • virOblationis:

    Die Alte Linke (seit Lenin) konzentrierte sich auf die Produktion von Produktionsmitteln und insofern auf die Ware, die energeia, nicht Geld und Möglichkeit. – Aber gilt dies auch bereits von Marx, also daß er „von der Wirklichkeit“ her dachte, wie ich im Artikel schrieb?

    Im Nachherein erscheint mir dies fraglich, denn wenn er in der Metamorphose der Waren von einer „Warenzirkulation“ statt von deren Endzweck als Gebrauchsgut ausgeht, dann scheint ihn weniger die Vergegenständlichung des Geldes in der Ware zu beschäftigen als vielmehr die Verwandlung von Waren in Geld; und so nannte er das zitierte Buch auch „Das Kapital (1867)“.

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