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Sozialindustrie 5

Im Anschluß an John Locke wird die Menschennatur neu definiert;* danach steht sie im Widerspruch zur traditionellen Gesellschaft, und es ergibt sich daraus die Pflicht, die Gesellschaft so umzuformen, daß sie der vermeintlichen Natur des Menschen entspricht. Dazu nahmen die USA das Recht eines „pursuit of hapiness“ in ihre Unabhängigkeitserklärung (1776) auf, und dazu errichteten die französischen Revolutionäre ihre Republik (nach 1789). Danach hob die Moderne an. – „So kann John Locke, einer der Aufklärer und Erfahrungsphilosophen aus England, im Grunde als ,Erfinder‘ der Menschenrechte bezeichnet werden; denn seine Formulierungen über die Rechte jedes einzelnen Menschen und die prinzipielle Gleichberechtigung als Ideal, als Leitfaden für das Verhalten, gingen nahezu wörtlich in die amerikanische Bill of Rights von Virginia, also in die erste Unabhängigkeitserklärung eines modernen, demokratischen Staates, ein, und sie haben dann später die amerikanische Verfassung und auch die französischen Verfassungen in und nach der Französischen Revolution beeinflußt. Diese waren freilich auch von anderen Philosophen, z.B. Rousseau und den Aufklärungsdenkern, vorbereitet worden. Doch selbst in der Erklärung der Menschenrechte der UN findet man noch fast wörtliche Übereinstimmungen mit der Ausarbeitung dieser Ideen bei John Locke.“**

* Um die Neudeutung der Menschennatur unangreifbar zu machen, identifiziert man sie neuerdings gern mit der Menschenwürde, denn wer wollte es wagen, eine solche dem Menschen abzusprechen?

** Hans Lenk, Kritik der kleinen Vernunft. Einführung in die jokologische Philosophie (1987), Im Ernst: Wer erfand die Menschenrechte?

Wenn sich die Natur des Menschen vor allem durch das Verlangen nach [irdischem] Glück und die Ablehnung von Unglück auszeichnet, dann ergibt sich daraus das Menschenrecht eines „pursuit of hapiness“. Darauf wiederum sind Roosevelts* „Vier Freiheiten (1941)“ gegründet, die jedem Menschen bestimmte Rechte zusprechen, sowie die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in der UN-Charta (1948)“, nach der der 2. Weltkrieg geführt wurde, um die von den barbarischen Gegnern der Alliierten mißachteten Menschenrechte durchzusetzen. – Wird gegenwärtig von Menschenrechten gesprochen, dann im modernen Sinne, der das aufklärerische Verständnis der menschlichen Natur voraussetzt; unter Johannes XXIII. (1958 – 1963) fand die gegen die katholische Tradition gerichtete moderne Menschenrechtslehre Eingang in die Kirche.**

* Franklin D.[elano] Roosevelt; geb. 1882, gest. 1945; US-Präsident 1933 – 1945

** s. Encyclica „Pacem in Terris (1963)“; ins Besondere im Recht auf alle zu ehrbarem Lebenswandel gehörigen [Dinge], „jus…ad honestum vitae cultum aptorum“, [gleich ob man sie selbst erwirtschaftet oder andere,] läßt sich Roosevelts „Freedom from want“, Freiheit von [materieller] Not, ohne weiteres wiedererkennen; die Freiheit von Furcht, die Freiheit der Rede und die Religionsfreiheit werden ebenfalls berücksichtigt, wenn auch im Verständnis der letzteren noch die überlieferte Lehre nachwirkt. (Diesen Rest beseitigte das Konzilsdokument „Dignitatis humanae“ von 1965.)

Auch die traditionelle Sicht hatte die Natur des Menschen definiert und ihr Rechte zuerkannt. Sie sah die Natur des Menschen durch seine Rationalseele bestimmt, durch die er als Geschöpf zur Erkenntnis und Verehrung Gottes aufgefordert sei, um auf seine Erlösung hin ausgerichtet zu leben. So heißt es noch im sog. „Grünen Katechismus“: „Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und einst ewig bei ihm zu leben.“* Daraus resultiert das Recht, sich ungestört dieser Natur entsprechend verhalten zu dürfen, wonach z.B. niemand befugt ist, der Verbreitung der katholischen Wahrheit Steine in den Weg zu legen.

* Katholischer Katechismus der Bistümer Deutschlands (1955), I. Vom Reichtum unsrer Berufung und von unsrer Aufgabe auf Erden, 1. Wozu sind wir auf Erden?

„The pursuit of hapiness“ stellt eine Verdiesseitigung des Strebens nach Eudaemonie mit spezifisch puritanischer Einfärbung dar, denn der solcher Art Gläubige erlangt sein Glück dadurch, daß er sich seiner Erwählung gewiß sein kann, und die sichert ihm der äußere Erfolg zu, der sich im materiellen Wohlstand manifestiert. Für den Erfolglosen mag es dann ein Trost sein, nach Befriedigung seiner Triebe zu trachten, da ihm dies, wenn schon keine endgültige Erlösung, so doch immerhin eine zeitweilige Glücksempfindung verschafft. So ergeben sich zwei Varianten der Verwirklichung des „pursuit of hapiness“, das Streben nach Reichtum und die Suche nach Triebbefriedigung; man vermag dieses Grundmuster noch in den beiden Strömungen wiederzuerkennen, die den Politikbetrieb gegenwärtig prägen, sozusagen die neoliberale Tugendhaftigkeit und die neulinke Liederlichkeit.

Da die Menschenrechte eine Natur des Menschen voraussetzen, könnte man auf den Gedanken verfallen, daß diejenigen, die inzwischen dazu übergegangen sind, die Natur des Menschen zu verleugnen[, um das Subjekt im Objekt aufgehen zu lassen,*] konsequenter Weise auch nicht mehr von Menschenrechten sprechen, doch ist dies keineswegs der Fall. – Eine neue philosophische Richtung schreibt dem Menschen die Fähigkeit zu, sich nach Gutdünken selbst zu bestimmen und leugnet eine menschliche Natur, jedenfalls eine solche, die die Lebensweise und den Zweck des Daseins vorgibt. Mit solcher Leugnung der Natur des Menschen wird eigentlich jedoch nur deren inhaltliche Fixierbarkeit bestritten, nicht die Natur des Menschen selbst, obwohl man dies irrtümlich meint. Tatsächlich setzt eine solche Position eine Natur des Menschen voraus, die in seiner Gottgleichheit besteht, so daß sich jeder als sein eigener Schöpfer nach Belieben bestimmen kann, und das Menschenrecht besteht darin, daß jeder sich seinen Wohnort, seine Lebensweise, seine Religion, sein Geschlecht, seine Vergnügungen, seine Race** und sogar seine Vergangenheit*** selbst bestimmen darf. Es bedarf nicht mehr eines „Großen Bruders“**** für alle, wenn jeder sein eigener „Großer Bruder“ ist.

* vgl. dazu den [bürgerlichen] Historismus in der Geschichtswissenschaft einerseits und den Marxismus-Leninismus andererseits

** vgl. den Fall der Rachel Dolezal von 2015

*** vgl. den Fall des „Binjamin Wilkomirski“ von 1995

**** vgl. George Orwell, „1984 (1949)“

Das menschliche Individuum setzt sich damit an die Stelle Gottes,* wobei es dem ugaritischen Athtar gleicht, der den für ihn zu großen Thronsitz vergebens einzunehmen sucht; freilich hat es Selbstvergötzung seit dem Altertum immer wieder gegeben, aber nicht als Hauptstrom des Geisteslebens, in den jedes Bächlein mittels Indoktrination von der Kindertagesstätte an geleitet werden soll. Damit verknüpft sich die Geistesgeschichte mit dem uranfänglichen Fall der Engel und mit der lügenhaften Verheißung: „Eritis sicut dii.“ Ihr werdet sein wie Götter.**

* vgl. damit die an das Vaticanum II (s. bes. Gaudium et spes 3, 22) anknüpfende Allerlösungslehre vor allem bei Johannes Paul II. (1978 – 2005)

** Gen. 3, 5

Zu der so verstandenen Freiheit tritt die – in den Menschen- und Bürgerrechten 1789 ebenfalls verkündete – Gleichheit. Neben dem liberalen Verständnis, das diese Aussage auf die Gleichheit vor dem Gesetz bezieht, und dem sozialistischen, das eine ökonomische Gleichheit anstrebt, eine klassenlose Gesellschaft, hat sich die Vorstellung einer biologischen Gleichheit entwickelt, die die offensichtlichen Unterschiede zwischen Racen*, Geschlechtern und Lebensaltern** leugnet.*** Die so verstandene Gleichheit bildet in der Ideologie der Neuen Linken zusammen mit der oben genannten beliebigen Freiheit des Individuums eine dialektische Einheit. Die Gleichheitslehre wird benötigt, weil man sonst nicht in der Lage wäre, die Frage zu beantworten, warum z.B. nicht alle, die sich für Weiße halten, in einem gemeinsamen Lebensraum ihr Dasein fristen dürfen, oder nur diejenigen, die sich als Männer definieren, zu einem Wehrdienst eingezogen werden; selbst die Co-Education ließe sich in Frage stellen. Dagegen wird die biologische Gleichheit angeführt, nach der alles, als was sich jemand bestimmt, nur äußerlicher Schein ist, weil es tatsächlich gar keine Unterschiede gibt. Die Vorstellung biologischer Gleichheit sorgt dafür, daß die sich selbst definierenden Individuuen sich im Grunde nicht verschieden voneinander sind; sie bestehen in der Möglichkeit zu beliebiger, aber nie endgültiger Verwirklichung, da jede wieder dekonstruiert, zur Möglichkeit zurückgeführt werden kann.

* vgl. als Vorläufer Coudenhove-Kalergies Einheitsrace

** An das von der UNO für 1976 und 1979 ausgerufene Jahr des Kindes schloß sich 1989 eine Kinderrechtskonvention („Convention on the Rights of the Child“) an, die 1990 in Kraft trat [in den USA allerdings nicht ratifiziert worden: Sonderrolle], und darin geht es um Rechte gegenüber den Eltern. An deren Stelle tritt die „human familiy“, Preamble, der lauter [gleiche] „human person[s]““ angehören.

*** vgl. zur biologischen Gleichheit auch die sog. Inklusion, die keine Klassifizierung nach dem Maße der Begabung mit Intelligenz duldet

Zwar fällt es keinem Menschen bei klarem Bewußtsein leicht, eine solche in sich widersprüchliche Ideologie nachzuvollziehen. Sie wird auch kaum den Anspruch gedanklicher Tiefe erheben, und ihre Vertreter werden sie lieber stillschweigend voraussetzen, statt sie in ihrer Dürftigkeit offen darzulegen. Wie sollte sich auch in alten weißen Männern all dasjenige der Gesellschaft, das der wahren Natur des Menschen entgegengesetzt ist, personifizieren, wenn es eigentlich weder Geschlecht noch Race gibt und das jeweilige Lebensalter gleichgültig ist? – Wertvoll ist die dialektische Verknüpfung von Freiheit und Gleichheit aber dadurch, daß sie auf ein Verständnis der Menschheit als einer bunten Menge entwurzelter Individuen hinausläuft. Dies nämlich entspricht exakt den Bedürfnissen des globalen Monopolkapitalismus; die Menge schwappt jeweils dorthin, wo gerade das umfangreichste und am einfachsten zu erlangende Konsumangebot offeriert wird.

In der dialektischen Verknüpfung von gottgleicher Freiheit und biologischer Gleichheit erkennt man auch die beiden politischen Hauptströmungen der Gegenwart wieder, den Neoliberalismus und die Neue Linke, und wie die Neue Linke als systemimmanente Opposition ihre Rolle spielt, so wird auch die biologische Gleichheit benötigt, um eine unerwünschte Nutzung der Freiheit zu verhindern, d.h. mit der Neuen Linken läßt sich die Buntheit gegen die Tendenz zur Konzentration von Gleichartigen nicht nur durchsetzen, sondern auch ideologisch begründen, wobei man stets den Verweis auf die nicht hinterfragbaren Menschenrechten einflechten kann.

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