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Sozialindustrie 6

Die staatliche Beaufsichtigung kirchlicher Einrichtungen für Bedürftige begann, wie am Beispiel des Pariser Hôtel de Dieu illustriert wurde, bereits im Mittelalter. Der Staat übernahm später kirchliche Einrichtungen und saecularisierte sie oder gründete eigene. Sorgten im Mittelalter Angehörige von Bruderschaften für Kranke, so traten in der Neuzeit allmählich Pflegekräfte an ihre Stelle, die keiner kirchlichen Gemeinschaft angehörten. – Der protestantische Pastor Theodor Fliedner* bildete in Kaiserswerth bei Düsseldorf seit 1836 unverheiratete Diakonissen aus nach dem Vorbild weiblicher Krankenpflegeorden. Die in Kaiserswerth und bei den Barmherzigen Schwestern in Paris unterrichtete Florence Nightingale** bemühte sich zuerst für Verwundete englische Soldaten während des Krimkrieges (1853 – 1856),*** und danach gründete sie eine Ausbildungsstätte für Krankenpflegerinnen in England (1860). – Während des 20. Jahrhunderts setzte sich allgemein die staatliche Vereinheitlichung der Ausbildung von Krankenschwestern durch.

* geb. 1800, gest. 1864

** geb. 1820, gest. 1910

*** 1864 gründete Henry Dunant (geb. 1828, gest. 1910) das Rote Kreuz.

Zum Erwerb von Bildung gehört bei Kindern die Erziehung. So stellte sich ins Besondere in den seit der Frühen Neuzeit entstehenden Volksschulen die Frage nach einer angemessenen Paedagogik, die während des 18. Jahrhunderts in den Bannkreis der Aufklärung geriet. – Der einer calvinistischen Zürcher Familie entstammende Johann Heinrich Pestalozzi* suchte, Rousseaus Theorie in die Praxis umzusetzen. Am hemmungslosesten exerzierte er dies an seinem einzigen eigenen Kind, das sich überhaupt nicht so entwickelte, wie es dem Erzieher vorschwebte; Pestalozzis zu Ehren Rousseaus Jean-Jacques genannter Sohn** erreichte nur eine geringe Bildung, litt an epileptischen Anfällen und verstarb mit einunddreißig Jahren. – Pestalozzi hatte anfangs versucht, sich im Dritten Stand zu etablieren, als Bauer und Textilunternehmer sowie zugleich Armenerzieher, der die von ihm aufgenommenen Kinder unterrichtete, während er sie für sich arbeiten ließ; 1774 hatte Pestalozzi auf seinem Hof eine Armenanstalt gegründet. Ohne Förderung von Seiten aufklärerisch gesinnter Gönner*** wäre der Betrieb schon bald zu Grunde gegangen; so erhielt er sich bis 1780. Pestalozzi betätigte sich danach erfolgreich als Schriftsteller, der u.a. die Theorie einer modernen Paedagogik entwarf. Pestalozzi ging dabei aus von einer [aufklärerisch verstandenen] Menschennatur, deren Anlagen sich mit Hilfe der Erziehung zu reiner Menschlichkeit entfalten sollten, wobei die Ursache von Deformationen der Persönlichkeit in widrigen gesellschaftlichen Umständen zu suchen sei, weshalb alle Bereiche des öffentlichen Lebens auf die Volkserziehung auszurichten seien.****

* geb. 1746, gest. 1827

** geb. 1770, gest. 1801

*** Pestalozzi gehörte (ab 1782) dem freimaurerischen Illuminatenorden an.

**** Pestalozzi wurde zusammen mit sechzehn weiteren Persönlichkeiten seiner Art von der französischen Nationalversammlung anläßlich des dritten Jahrestages der Verkündung der Bürger- und Menschenrechte zum Ehrenbürger des revolutionären Frankreich ernannt (1792).

1799 bot sich Pestalozzi die Möglichkeit, eine mit staatlichen Mitteln geförderte Erziehungsanstalt für Waisenkinder zu gründen, die aber noch in demselben Jahr wieder schließen mußte. Pestalozzi leitete danach ein Seminar zur Ausbildung von Lehrern und unterrichtete auch selbst (1799 – 1804), bis er eine Schule mit angeschlossener Lehrerausbildungsstätte gründen konnte, die er bis 1825 betrieb; dort gehörten handwerkliche Tätigkeiten neben dem Unterricht zum Tagesablauf der Schüler. – Nun konnte Pestalozzi die von ihm entwickelte Theorie in die Praxis umsetzen: Seine Methodik ging über das aufklärerische Gedankengut hinaus, indem sie darauf abzielte, nicht nur den Verstand der Kinder anzusprechen, sondern deren Emotionen, was natürlich der Manipulation in jede gewünschte Richtung Tür und Tor öffnet; außerdem bemühte sie sich um Veranschaulichung von Abstraktem. Endlich nötigten ökonomische Probleme und Streitigkeiten im Lehrerseminar Pestalozzi zur Schließung der Einrichtung; zwei Jahre darauf verstarb er, während er versuchte, noch einmal eine Armenanstalt dort zu gründen, wo er 1774 bis 1780 tätig gewesen war.

Pestalozzis Schüler verbreiteten dessen paedagogisches Konzept in weiten Teilen Europas. Sein Schüler Friedrich Fröbel* richtete in Deutschland einen ersten Kindergarten ein (1840). – In modernen Weltanschauungen der politischen Linken mit u-topischem Charakter** übernimmt die Gesellschaft die Rolle einer – vermeintlich aus eigener Kraft überwindbaren – Erbsünde; sie bewirkt die Entfremdung des Menschen von seiner wahren Natur. Die Gesellschaft muß deshalb verändert werden, bis sie die Natur des Menschen entspricht; dies betrifft die Umgestaltung im Ganzen durch Revolution oder Reformierung sowie die Umgestaltung, die sich dem Einzelnen zuwendet, um ihn zu therapieren. Die Gesellschaft ist verantwortlich für alle Deformierungen und Defizite der Persönlichkeit. Sie ist die eigentliche Ursache aller Verbrechen, weshalb Kriminelle nicht zu bestrafen, sondern umzuerziehen sind, bis sie ihrer wahren Natur entsprechen.

* geb. 1782, gest. 1852

** griech. ou topos, nicht [aufzufindender] Ort

Gewissermaßen ein katholisches Gegenstück zu Pestalozzi bildet der hl. Johannes Bosco, genannt Don Bosco.* Er bemühte sich um die verwahrlosten Jugendlichen Turins** und setzte dabei das traditionelle Verständnis der – von der Erbsünde bedrängten – menschlichen Natur voraus, das die Anfälligkeit durch die – gegen die Vorherrschaft der Rationalseele aufbegehrenden – Leidenschaften voraussetzt; das Ziel der Erziehung sollte es sein, rechtschaffene, von ihrer Werktätigkeit lebende Bürger und gute, der Kirche treue Christen heranzubilden in Theorie und Praxis. Um dabei möglichst weitgehend auf Repression verzichten zu können, setzte Don Bosco auf die Praevention, die Vermeidung von zur Sünde verleitenden Situationen. Da nur das gut ist, was von Natur aus ist, und schlecht all das, was die [von der immateriellen Form bestimmte und im Stofflichen verwirklichte] Natur [jedes Einzelnen] beeinträchtigt, konzentrierte sich Don Bosco auf das Gute, d.h. hier: die Stärken des zu Erziehenden, um sie zu entfalten, damit auf diese Weise die Defizite verringert würden. – Auch Don Bosco sah sich – wie Pestalozzi – beständig vor ökonomische Probleme gestellt, doch ihm gelang es, Beständiges zu schaffen, nicht nur Einrichtungen für seine Schützlinge, sondern auch den Salesianerorden zu deren fortdauernder Betreuung (1861). Don Bosco schrieb nur wenig; sein „Präventivsystem in der Erziehung der Jugend (1877)“*** umfaßt nur wenige Seiten.

* geb. 1815, gest. 1888

** 1846 gründete Don Bosco das Oratorium des hl. Franz von Sales für seine Schützlinge.

*** ital. „Il sistema preventivo nella educazione della gioventù“

Im 19. Jahrhundert entstand mit der für die industrielle Produktion notwendigen großen Zahl von Arbeitern eine Massengesellschaft. – In Hamburg gründete der fromme Protestant Johann Hinrich Wichern, damals Oberlehrer, das „Rauhe Haus“ für notleidende Kinder (1833).*

* geb. 1808, gest. 1881; das „Rauhe Haus“ trug seinen Namen nicht etwa wegen der darin herrschenden Sitten, sondern vom Vorbesitzer Ruge her, d.h. es war das ehemalige „Ruge-Haus“.

Durch die Landflucht büßten Bauernknechte ihre bisherige soziale Einbindung ein. In Fabriken tätige Handwerksgesellen fanden keine Aufnahme mehr im Hause eines Meisters; sie bildeten später als Facharbeiter einen Teil des Proletariats, ungelernte Arbeiter den anderen. – Für Handwerksgesellen, die zu verwahrlosen drohten, wurde in Wuppertal-Elberfeld 1846 ein Gesellenverein gegründet, an dessen Leitung ab 1847 der sel. Adolph Kolping* beteiligt war; er hatte selbst das Schuhmacherhandwerk erlernt, bevor er Priester geworden war. Adolph Kolping schuf einen weiteren Gesellenverein in Köln, wohin er 1849 versetzt wurde; durch ihn fand diese Einrichtung weite Verbreitung.

* geb. 1813, gest. 1865

Genossenschaften entstanden, deren Mitglieder einander gegenseitig bei der Sicherung der materiellen Existenz behilflich waren. – Während die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft auf Freiwilligkeit beruhte, war sie für die von der Sozialgesetzgebung Bismarcks* Erfaßten obligatorisch: Die Kranken- und Unfallversicherung (1883/1884) betraf sämtliche Arbeiter, ebenso die Invaliditäts- und Altersversicherung (1889).** – Natürlich setzt eine solche Gesetzgebung einen seine Grenzen schützenden Nationalstaat voraus, dessen Bürger durch ihre Werktätigkeit die Versicherungsleistungen – zusammen mit den Unternehmern*** – einerseits finanzieren und sie andererseits in Anspruch nehmen; wenn ein Bürger auch ohne eigene Leistung die Sozialversicherung in Anspruch nehmen würde oder gar jeder Fremde nach Belieben Bürger werden könnte, um anschließend – auch ohne Werktätigkeit – die Leistungen in Anspruch zu nehmen, würde von vielen genossen, was eine abnehmende Anzahl erwirtschaftet.

* Otto von Bismarck; geb. 1815, gest. 1898; Reichskanzler 1871 – 1890

** Freigestellt waren nur Lohnempfänger ab 2000 Reichsmark Jahreseinkommen. Dazu zählte gewiß kein Arbeiter.

*** Bei der Krankenversicherung hatten sie ein Drittel der Kosten zu übernehmen.

Die Genossenschaften bilden Kollektive, deren Mitglieder sich zusammengefunden haben, um einander gegenseitig bei der Sicherung der materiellen Existenz zu helfen. Die von der Bismarck‘sche Sozialgesetzgebeung Erfaßten bilden ebenfalls ein solches Kollektiv, das jedoch unabhängig von deren Wollen konstituiert worden ist, also nicht auf Freiwilligkeit beruht. In beiden Fällen aber herrscht innerhalb des Kollektivs Solidarität. – Dem Daseinszweck des Kollektivs widerspräche es, würden Mitglieder aufgenommen, die die Leistungen empfangen, ohne selbst tätig zu werden wie die anderen; deren Aufnahme wäre kein Akt der Solidarität, sondern würde den Zusammenhalt des Kollektivs schwächen, die Solidargemeinschaft zersetzen, da deren Mitglieder – auf Untätige, aber ebenso Versorgte blickend – entweder eine Einschränkung der Leistungen hinnehmen oder ihre Anstrengungen zur Aufrechterhaltung verstärken müßten oder auch beides, wobei sich das Ausmaß nach der Menge der nicht-aktiven Mitglieder des Kollektivs richtete.*

* Man vergleiche dazu Hartz IV-Gesetze und die Agenda 2010.

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