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fiat justitia aut pereat mundus (1)

„fiat justitia aut pereat mundus.“ Es soll Gerechtigkeit [verwirklicht] werden, sonst könnte die Welt vergehen. – Dieser Ausspruch des Soldatenkönigs, Friedrich Wilhelms I.,* wurde in dem Artikel „fiat justitia et pereat mundus“ erwähnt, aber noch nicht dargelegt, warum denn das Recht von so großer Bedeutung ist, daß gewissermaßen das Leben der Welt davon abhängt: Das Recht soll also von existentieller Bedeutung sein für die Welt, worunter hier das Leben der Gesamtheit der Bürger zu verstehen sein dürfte, denn ihnen gegenüber beanspruchen die Gesetze Gültigkeit; besondere Brisanz gewinnt darüber hinaus die Frage nach dem Rechtsstaat in einer Zeit fortgesetzter Gesetzesbrüche und der Mißachtung internationaler Verträge.

* 1713 – 1740

Schon Cicero* erwähnt das Recht als eines der beiden Kennzeichen eines Staatswesens; das zweite bildet das Bonum commune, das Gemeinwohl, das die Ausrichtung des Staates auf den Nutzen nur eines Teiles der Gesellschaft ausschließt. – In De re publica I, 39 legt Cicero dem jüngeren Scipio** folgende Worte in den Mund: „Est…res publica res populi; populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis juris consensu et utilitatis communione sociatus.“ …das Staatswesen (res publica) ist eine Sache des Volkes (res populi); Volk*** aber [ist] nicht jede Vereinigung von Menschen, auf welche Weise [auch immer sie] versammelt worden [ist], sondern die Vereinigung einer Menge in Zustimmung zu einem [gemeinsamen] Recht und die Verbindung [einer Menge] in der Teilhabe am [gemeinsamen] Nutzen. – Wenn das Recht also von konstitutiver Bedeutung das in einem Staat lebende Volk, die Gesellschaft, ist, wird auch verständlich, warum es bei St. Augustinus heißt: „Remota itaque justitia, quid sunt regna nisi magna latrocinia?“ Nimm (deshalb) die Gerechtigkeit weg; was sind Reiche [bzw. Staaten dann noch] außer großen Räuberbanden?****

* Marcus Tullius Cicero; geb. 106, gest. 43 v. Chr.

** Publius Cornelius Aemilianus Scipio Africanus [minor] Numantinus; geb. wohl 185, gest. 129 v. Chr.

*** Gemeint ist hier das, was modern als Gesellschaft bezeichnet wird, aber zugleich auch deren Unterbau in den Familien.

**** geb. 354, gest. 430; hier: De Civitate Dei IV, 4

Traditionell werden zwei Arten der Gerechtigkeit unterschieden, die Justitia commutativa und die Justitia distributiva. Erstere ist eine auf ausgeglichenem Austausch beruhende Gerechtigkeit, letztere die – unter irgendeinem Gesichtspunkt und dem von daher bestimmten Maßstab – zuteilende Gerechtigkeit. Beide Formen der Gerechtigkeit kommen dem Staat in bestimmter Weise zu. Um dies zu verstehen, ist ein Rückblick auf dessen Anfänge hilfreich, weil dadurch klar wird, wo jede der beiden Formen von Gerechtigkeit ursprünglich verankert ist.

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Bereits die neolithische Gesellschaft in Europa ist als rechtloser Zustand nicht vorstellbar, da sie keineswegs bald nach ihrer Entstehung in Anarchie untergegangen ist, sondern mehrere Jahrtausende bestanden hat. – Die neolithische Gesellschaft war egalitär strukturiert, d.h. sie bestand aus lauter Familien bzw. Haushalten auf gleicher ökonomischer Grundlage sowie ohne gesellschaftliche Über- und Unterordnung. Innerhalb der Familien gab es jedoch kaum Gleichheit, sondern der Vater als Oberhaupt wird die Familie gegenüber den ihm Gleichgestellten vertreten und zusammen mit diesen die Verteidigung des Gemeinwesens organisiert haben, während die Frau den Haushalt führte. Ähnlich wie die Aufgabenbereiche bei der Arbeitsteilung dürften also auch die sozialen Funktionen des Vaters und der Mutter innerhalb des Gemeinwesens ganz unterschiedlich gewesen sein.

Die Unterscheidung von Familie und Gesellschaft ist von grundlegender Bedeutung, weil dort verschiedene Rechtssphären vorherrschen, in der Familie die Justitia distributiva und in der Gesellschaft die Justitia commutativa. Innerhalb der Familie, die zu ihrem Überleben auf den Zusammenhalt aller ihrer Glieder angewiesen ist, gilt der moralische Grundsatz, daß jeder nach seinen Fähigkeiten zu ihrem Erhalt beiträgt, und im Gegenzug wird ihm, so weit möglich, zugeteilt, wessen er bedarf; Träger des Rechtes ist das Familienoberhaupt, von den Römern Pater Familias genannt. Die schlimmste Strafe besteht in der Entfernung aus dem Kreis der Familie, entweder durch Tötung oder durch Ausschluß. – Ganz anders als in der Familie verhält es sich in der egalitären Gesellschaft. Die Väter versammeln sich,* um strittige Fragen zwischen ihren Familien zu klären, Verträge abzuschließen usw. Es gibt keine staatliche Gerichtsbarkeit, die ihnen übergeordnet wäre. So haben die Versammelten selbst darauf zu achten, daß ein ausgeglichener Austausch zwischen ihnen erhalten bleibt.

* Die in so zahlreichen Kulturen existierende Institution der Ältesten hat hier ihre Wurzeln.

Man erkennt mit Hilfe dieses geschichtlichen Modells u.a. einen folgenschweren Irrtum des Marxismus, denn nach Marx* soll im Kommunismus der Grundsatz herrschen: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Damit wird die in der Familie herrschende Moral samt der Justitia distributiva auf die von der Justitia commutativa geprägte Rechtssphäre der Gesellschaft übertragen, der Unterschied zwischen Familie und Gesellschaft ignoriert, ja eine Menschheitsfamilie vorausgesetzt.** – Marx schreibt: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, …nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden…und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen… – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“***

* Karl Marx; geb. 1818, gest. 1883

** Bei der Menschheit handelt es sich jedoch um keine Familie mit Vater und Mutter, sondern eher um so etwas wie eine Menge vergleichbarer sozialer Gefüge.

*** K. Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei [bzw. Kritik des Gothaer Programms] (1890/1891; verfaßt 1875), I 3.

Wie Marx, so irrt der heutige Gutmensch, denn auch er überträgt moralische Vorschriften auf den Bereich des Rechts, setzt sie an dessen Stelle und fordert von anderen materielle und ideelle Unterstützung, damit er seinen Irrtum in die Tat umsetzen kann; als Mittel zur Erpressung benutzt der Gutmensch vorzugsweise die politische Korrektheit.

 

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