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fiat justitia aut pereat mundus (2)

Der Liberalismus nimmt in bezug auf das Gemeinwesen allein die Gesellschaft wahr, nicht deren familiären Unterbau. Er setzt die Gesellschaft absolut und faßt die sie tragenden Familien daher als gesellschaftliches Phänomen auf, als mehr oder weniger beständige Zusammenschlüsse zwischen einzelnen Angehörigen der Gesellschaft, also zwischen Individuen.

Man erkennt darin die Voraussetzung für den marxistischen wie den gutmenschlichen Irrtum, die die Familie nicht preisgeben, sondern sie in der ihr gemäß umgestalteten Gesellschaft wiederfinden wollen, indem sie – die (globale) Menschheitsfamilie (oder auch die Volksgemeinschaft) – an deren Stelle setzen; der Marxismus erwartet dies von der Zukunft, der Gutmensch will es bereits in seiner Gegenwart verwirklichen; die eigentlich in der Familie beheimatete Moral verdrängt das Recht. – Eine Variante des neulinken Gutmenschen-Irrtums findet man auch in den Dokumenten des Vaticanums II, wo bereits zu Beginn der „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ gesagt wird: „Nostra Aetate, in qua genus humanum in dies arctius unitur…“*; und in der „Dogmatische[n] Konstitution über die Kirche“ heißt es über diese im ersten Absatz: „Cum autem Ecclesia sit in Christo veluti sacramentum seu signum et instrumentum intimae cum Deo unionis totiusque generis humani unitatis…“** – wo hätte man solches zuvor vernommen, nämlich daß die Kirche Sakrament bzw. Zeichen und Werkzeug…der Einheit des gesamten Menschengeschlechtes sei, also der Vereinigung der Menschheitsfamilie – und mithin der Globalisierung – diene?***

* In unserem Zeitalter, in welchem das Geschlecht der Menschen [von Tag] zu Tag enger vereint wird…

** Lumen Gentium 1: … Da aber die Kirche in Christus gleichsam das Sakrament ist oder das Zeichen und Werkzeug der innigsten Vereinigung mit Gott und der Einheit des ganzen Geschlechtes der Menschen…

*** Immer wieder wird in der Vat. II – Dokumenten die überlieferte Lehre mit Neuartigem vermengt, so wie im obigen Beispiel „intimae cum Deo unionis“, (der) innigste(n) Vereinigung mit Gott, mit „totiusque generis humani unitatis“, (und) der Einheit des ganzen Geschlechtes der Menschen. Dazu sei angemerkt, daß gerade der vorgeblich gebotene Dienst an der Globalisierung aufhebt, was noch im Titel „Lumen gentium“, Licht der Völker, genannt wird, nämlich die Völker.

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Eine glückliche Fügung verhilft zum besseren Verständnis der geschichtlichen Entstehung der staatlichen Rechtsgemeinschaft aus dem durch Gesellschaft und Familien konstituierten, aber noch nichtstaatlich organisierten Volk: Das Alte Testament reicht in seinen Anfängen bis in die vorstaatliche Zeit Israels zurück, und man vermag von daher Rückschlüsse auf den Übergang von einer egalitären zu einer staatlich strukturierten Gesellschaft zu ziehen.

Das – in Gott gegründete – Gesetz ist für das Volk des Alten Testaments ebenso kennzeichnend wie die Natur als Norm für das Griechentum seit der Klassik.* Es gibt innerhalb des Alten Testaments zwei formal voneinander deutlich verschiedene Kategorien von Rechtssätzen, die apodiktisch und die kasuistisch formulierten; erstere zeichnen sich gewöhnlich durch das „Du sollst nicht“ aus, während letztere einen Fall beschreiben (wenn) und nachfolgend die dazu gehörige Sanktion nennen (dann), z.B. „[Wenn] einer einen Mann schlägt, und der stirbt, [dann] soll der Täter wahrhaftig [auch] sterben.“** So ist die Vermutung geäußert worden, daß das apodiktische Recht ursprünglich in der Familie verwurzelt ist; das kasuistische Recht wäre dem entsprechend der Gesellschaft zuzuordnen, d.h. in dem zuvor genannten Fall ginge es darum, daß jemand den Angehörigen einer anderen Familie tödlich verletzt, während innerhalb der Familie das „Du sollst nicht töten“*** gilt und vom Pater Familias der Verstoß dagegen geahndet wird.

* So lag der Gedanke nicht fern, beides in einer Synthese miteinander zu verbinden, s. Rom. 2, 14f., wonach das Gesetz [zur menschlichen Natur gehört, da es] jedem Menschen ins Herz geschrieben ist.

** Ex. [2. Mose] 21, 12

*** Ex. 20, 13

Zu einer Verankerung des kasuistischen Rechtes in der Gesellschaft der vorstaatlichen Zeit paßt sehr gut eine Formulierung, die von wenn und dann ausgeht, also keine übergeordnete Instanz voraussetzt, sondern das zwischen Gleichberechtigten herrschende Gewohnheitsrecht fixiert. Das apodiktische Recht hingegen spricht im Namen dessen, der Untergeordnete im Falle ihres Vergehens bestraft. Ein solches Recht mußte in staatlicher Zeit von der Familie auf die Obrigkeit verlagert werden, so daß es den Charakter des von Richtern ausgeübten Strafrechts annahm; eine Doppelstruktur von Richtern und Familienoberhäuptern in bezug auf die Verhängung von Kapitalstrafen konnte auf die Dauer kaum bestehen bleiben, da es die Staatsmacht grundsätzlich in Frage stellte. Das in der Gesellschaft gebräuchliche Recht mochte als Zivilrecht weiterhin bestehen bleiben, so weit es sich auf Fälle außerhalb der Zuständigkeit des Strafrechts beschränkte. – So sind verschiedene Formen des Zivilrechts innerhalb einer einzigen Gesellschaft denkbar, und tatsächlich gab es solche in der vormodernen Zeit: Die Kirche besaß für die Geistlichen und Ordensangehörigen ihr eigenes Recht und ebenso die Synagoge für die Juden; beide bildeten das, was man heute Parallelgesellschaften nennt.

Die mit der Französischen Revolution postulierte Gleichheit forderte nach liberaler Auffassung eine Gleichheit vor dem Gesetz. Sie zielte nicht allein darauf ab, den Monarchen demselben Gesetz zu unterwerfen wie den Bürger, sondern Parallelgesellschaften mit eigenem Zivilrecht aufzuheben. – In bezug auf die Synagoge stellte dies in Westeuropa scheinbar kein gravierendes Problem dar, denn es lebten verhältnismäßig wenig Juden dort, nachdem sie im 13. und 14. Jahrhundert aus England und Frankreich vertrieben worden waren. Doch beförderte die Aufhebung der rechtlichen Unterschiede, die sämtliche Bürger vor dem Gesetz gleich machte, letztlich die Transformation religiöser Judenfeindschaft in den modernen Antisemitismus, vor allem in Frankreich, wo mit der Revolution die „Judenemanzipation“ angehoben hatte.

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