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Kampfideologie der Diktatur

von virOblationis

„Die Stimmung kippt!“ Es werden „Ängste“ geschürt und sind zu beruhigen. Der „Haß“ führt zu kriminellen Handlungen, und deshalb müssen verbale Äußerungen von Hassern als „hate speech“ zensiert und bestraft werden. – Was steht diesem Dunkel entgegen? Auf jeden Fall das Selbstvertrauen, die Zuversicht; in Worte gekleidet: „Wir schaffen das!“ Eine jedem geläufige Phrase der derzeitigen Kanzlerin, die kaum zufällig an das Motto „Yes we can!“ aus dem US-Präsidentschaftswahlkampf von 2008 erinnert.

Vernunftgemäße Reflexion würde fragen, was denn genau das „Wir“ schaffe, doch schon der Vergleich mit dem Slogan „Yes we can!“ zeigt, daß es überhaupt nicht darum geht, welche Aufgabe konkret bewältigt werden soll, sondern nur um einen Impuls der Zuversicht gegenüber wem und was auch immer. – Die Vernunft würde auch nach dem „das“ schaffenden „Wir“ fragen: Wer ist damit gemeint, wenn die Gemeinschaft der Angesprochenen durch massenhaften Zustrom Kulturfremder aufgelöst wird? Das „Wir“, das doch angeblich zu bewältigen vermag, was es zersetzt, könnte doch nur dann etwas „schaffen“, wenn es erhalten bleibt. Aber wiederum: Darum geht es nicht. Vielmehr soll dem „Wir“, bestehend aus lauter einzelnen Individuen, von denen manche unter Ängsten leiden, durch Zuspruch Selbstvertrauen eingeflößt werden.

Äußerte sich nur ein einzelner Lokalpolitiker in solcher Weise, wäre dies als persönliche Eigentümlichkeit vielleicht zu registrieren, aber kein Anlaß, es zu ergründen. Auffällig erscheint es jedoch, daß mehr oder weniger die gesamte Führung der hiesigen Politischen Klasse – unabhängig von der Parteizugehörigkeit – Stellungnahmen abgibt, die bezeugen, daß sie den Menschen ganz durch Emotionen geprägt wähnen, durch Zuversicht, Ängste oder Haß. Abgesehen von der Kanzlerin sei auf den Bundesinnenminister* sowie den Justizminister verwiesen. Während die Erstgenannte den Part der Zuversicht übernimmt, um Ängste zu beruhigen, drohen ihre beiden Minister dem Haß.

* „Wir müssen darum kämpfen, dass man bestimmte Dinge einfach nicht sagt und tut. Wir dürfen Gewalt und Hass nicht tolerieren.“ [Oktober 2015]

**„Fremdenfeindliche und rassistische Hassbotschaften, die gegen Strafgesetze verstoßen, müssen schneller und umfassender aus dem Netz verschwinden.“ [Oktober 2015]

Wenn alles von Emotionen, Stimmungen, beherrscht wird, welche Rolle kommt dann noch der Vernunft zu? Nun, sie hat die jeweilige Lage zu meistern. Nicht etwa, daß sie dazu grundsätzlich etwas in Frage stellen dürfte,* vielmehr hat sie das Vorfindliche so zu gestalten, zu „managen“, daß es effizient funktioniert; das ist die Aufgabe der Politik, und so haben die Bürger denjenigen zu wählen, dessen Wirken die höchste Effizienz verheißt. – Man erinnere sich an dieser Stelle des ehemaligen Vorsitzenden der AfD und seiner politischen Herkunft aus der zum Verbund systemerhaltender Parteien gehörigen CDU.

* vgl. die oft wiederholte Rede von Alternativlosigkeit

Diese offensichtlich für die Politische Klasse bequeme, weil grundsätzliche Hinterfragung verbietende Ideologie, die das Leben den Emotionen ausgesetzt sieht und der Vernunft die Aufgabe zuschreibt, ein ohnehin sich ereignendes Geschick zu bewältigen, läßt sich mit der Lehre der alten Stoa vergleichen, deren bedeutendster Theoretiker Chrysipp* gewesen ist. Nach Chrysipp ist der erwachsene Mensch ein reines Vernunftswesen, das keine Emotionen zuzulassen hat; überläßt sich der Mensch dem Affekt statt der Vernunft, fällt er in seinem Inneren ein Fehlurteil und sinkt ab in animalisches Verhalten. Die Vernunft gibt dem Menschen Anteil am göttlichen Logos, der alles Geschehen in der Welt wirkt. Die Vernunft erlaubt es dem Menschen also nicht, das Schicksal abzuwenden, sondern sie ermöglicht es ihm, sich willig in das Unvermeidliche zu fügen. – Dies läßt sich vergleichen mit dem Verzicht der zuvor charakterisierten politischen Ideologie, das internationale Geschehen grundsätzlich in Frage zu stellen. Offenbar sind es höhere Mächte, die das Schicksal der Welt bestimmen, und der Politik kommt es zu, mit Hilfe der Vernunft für einen möglichst reibungslosen Ablauf des unabwendbaren Vorganges zu sorgen. Die Wähler sollen sich dann für diejenige Partei entscheiden, die glaubhaft verspricht, dafür das meiste Geschick zu besitzen.

* geb. 281/277, gest. 208/204 v. Chr.

Die kosmopolitisch ausgerichtete alte Stoa vertritt keineswegs einen bloßen Fatalismus wie die zu ergründende politische Ideologie unserer Gegenwart, denn das Schicksal ist nach ihrem Verständnis Ausdruck höchster Vernunft und verwirklicht die kosmische Ordnung. Darum hat der vernunftbegabte Mensch sich ihr zu beugen und seinerseits die Verhältnisse gemäß der Vernunft zu gestalten, d.h. im Bereich der Politik, dem Naturrecht, d.h. der Natur des Menschen, entsprechende Gesetze zu erlassen und danach zu regieren. Der Bürger seinerseits hat nicht mit irgendwelchen Emotionen darauf zu reagieren, sondern dies zu bejahen, so weit es der universalen Vernunft gerecht wird, was eine oppositionelle Haltung keineswegs ausschließt, so daß zahlreiche Stoiker uner Nero (54 – 68) hingerichtet wurden. – Man erkennt unschwer, daß der Fatalismus, den die gegenwärtig verbreitete und hier betrachtete politische Ideologie vertritt, mit jeglicher Diktatur kompatibel ist, da sie dazu auffordert, nur das, was ohnehin vor sich geht, möglichst effizient ablaufen zu lassen. Darüber hinaus ist diese Ideologie geeignet, zur Absicherung diktatorischer Verhältnisse genutzt zu werden, da sie jede grundsätzliche Hinterfragung des Geschehens als „Hasserede“ zu kriminalisieren vermag, was diese der Verfolgung aussetzt; darum spreche ich von einer Kampfideologie der obwaltenden Willkür, ja der – potentiellen oder bereits verwirklichten – Diktatur.

Während die alte Stoa lehrt, auf die Vernunft bauend das natürliche Geschehen in unerschütterlicher Haltung zu bejahen, aber dem naturwidrigen Verhalten von Menschen wie den eigenen Leidenschaften unbeugsam entgegenzutreten, sieht die hier betrachtete Kampfideologie den Menschen ganz von Emotionen bestimmt, da seine Vernunft allein dazu dient, sich allem Geschehen gegenüber möglichst konform zu verhalten. Dabei existieren zwei Gruppen von Menschen, die wohlmeinenden Hellen und die üblen Dunklen.* Die Hellen sind voller Zuversicht und werden allenfalls von Ängsten geplagt; die Dunklen dagegen treibt ihr Haß um, der sich in kriminellen Handlungen niederschlägt.

* vgl. dazu die Rede des gegenwärtig amtierenden Bundespräsidenten von einem „Dunkeldeutschland“ [Juli 2015]

Die Einteilung der Menschen in zwei einander ausschließende Lager verweist auf die Herkunft der Kampfideologie aus dem Bereich der USA. Wie allgegenwärtig dort ein manichäisches Denken auf Grund einer saecularisierten puritanischen Tradition ist, soll das Beispiel eines weitverbreiteten Animationsfilmes vor Augen führen; gemeint ist „The Adventures of Tintin (USA 2011)“. Darin gibt man vor allem auf die Comic-Geschichten „Le secret de la Licorne (1943; dtsch. Das Geheimnis der Einhorn)“ und „Le trésor de Rackham le Rouge (1943; dtsch. Der Schatz Rackhams des Roten)“ wieder, doch mit verschiedenen Abänderungen, von denen eine in diesem Zusammenhang besonders bedeutsam erscheint: Aus einer Nebenfigur der Handlung, einem Schiffsmodellsammler namens Ivan Sakharine, wird der böse Gegenspieler des guten Kapitän Hadoque, den Tintin als Held zu untertützen hat. Der Gegensatz zwischen Sakharine und Hadoque beschränkt sich nicht etwa auf diese beiden Figuren des Films, sondern bezieht auch deren Vorfahren ein, den Piraten Rackham und den Kapitän des überfallenen Schiffes. Der Schatz, um den es geht, steht dem Guten zu, und der Film schildert, wie es ihm gelingt, ihn zu erlangen, wobei er sich beständig der Angriffe des Bösen zu erwehren hat. – Die so umgestaltete „story“ verweist nicht etwa nur auf die Hitler-Ideologie, nach der sich in sämtlichen den USA feindlichen Herrschern der Welt der Erzbösewicht erneut verkörpert, sondern vor allem auf die calvinistische Lehre einer doppelten Praedestination, nach der das Lager der Erwählten durch eine unüberbrückbare Kluft von dem der Verdammten getrennt wird, wobei der Erfolg, d.h. der erfolgreiche Erwerb einer möglichst großen Menge Geldes, als Zeichen der Erwählung gilt (s. Die geistigen Wurzeln der Neuen Linken: Das manichäische Denken 2a und 2b), m.a.W. das Geld der Welt steht legitimer Weise nur den Erwählten zu.

So wird deutlich, daß die betrachtete Kampfideologie einer us-amerikanischen Denkschule entstammen dürfte, die einen Absenker der altstoischen Lehre hervorgebracht hat, modifiziert durch Motive der saecularisierten puritanischen Tradition, die die Menschen eines Landes in zuversichtliche, allenfalls verängstigte Gute und hassendes Pack* einteilt, je nachdem ob sie das von der Politischen Klasse möglichst effizient „gehändelte“, durch die Interessen des Finanzkapitals und der globalen Monopole bestimmte Geschehen als unabwendbares Schicksal akzeptieren oder nicht.

* vgl. die Rede des Vizekanzlers vom „[protestierenden] Pack“ [August 2015]

 

 

 

 

4 Kommentare zu „Kampfideologie der Diktatur“

  • Waldgänger:

    Ausgezeichneter Artikel!
    Danke.

  • Bausparer:

    Fast hätte mich der martialische Titel davon abgehalten, diesen außerordentlich gehaltvollen Kommentar unseres geschätzten Foristen n i c h t zu lesen — Da fiel der Blick auf den Namen „Chrysippos“! Es ist selten, dass so präzis u. konzis der Auffassung entgegengetreten wird, stoisches Denken sei fatalistisch u. konformistisch. Wer sich vertieft mit den — leider nur rudimentär überlieferten — stoischen Texten beschäftigt, wird kaum einer „Kampfideologie der Diktatur“ zum Opfer fallen.

    Nebenbei bemerkt, sehe ich nicht in Chrysipp, sondern in Epiktet den wichtigsten Kopf der Stoa.* Typisch stoisch ist die in einem Passus der „Lehrgespräche“ über Freiheit geschilderte Reaktion des Sokrates, der Epiktet als stoischer Weiser galt: Es ging zunächst darum, Kriegsdienst für das Vaterland zu leisten, u. Sokrates zog ohne Zögern ins Feld. Später befahlen ihm die „Dreißig Tyrannen“ Athens, den Feldherrn Leon zu verhaften, was er verweigerte. (Auch nachzulesen in der „Apologie“.) Ohne den baldigen Sturz der Tyrannen, hätte die Weigerung vermutlich sein Leben um ein paar Jahre verkürzt. (Leon wurde meines Wissens trotzdem hingerichtet …)
    * [vO: Chrysipp als bedeutendster Theoretiker der alten Stoa; Epiktet Vertreter der jungen Stoa der römischen Zeit.]

    Werden wir Berater u. Gehilfen der politischen Führung auch einmal einen Auftrag oder Befehl als Schande empfinden u. einfach nach Hause gehen?

    Nach meiner Deutung wird das genuin stoische Denken, das auch uns Heutige noch Maßstab sein kann, durch zwei verschiedene Typen des Schicksals geprägt: Typ I ist im Wesentlichen unser Tod. Auf ihn hin denken wir im Modus des berühmten „Ertrage und entsage“. Dem Tod etwas abhandeln zu wollen, wenn er vor der Tür steht — so, wie es heute als selbstverständlich gilt — , ist unstoisch. Schicksalstyp II umfasst alle Dinge, die nicht in unserer Macht stehen. Den äußeren Abläufen sollen wir uns letztlich fügen. Allerdings zeigt sich das Unabwendbare dieser Schicksale erst im Augenblick der Unabwendbarkeit. Wenn wir keine Spielverderber sind — frei nach Epiktet –, sollten wir an dem großem Schauspiel teilnehmen. (Gemäß unserem V e r n u n f t v e r m ö g e n , sehr richtig, virOblationis!*)
    [* vO: Oh, danke!]

    Der Kosmoplitismus der Stoiker hat eine ganz andere Gestalt als die Vision der „neuen Weltordnung“ bzw. der Linken — aber das ist ein anderes Thema.

    Zum manichäischen Denken, das der skizzierten „Kampfideologie“ so gute Dienste leistet, wäre anzumerken, dass es sich sicherlich nicht nur aus puritanischer Tradition speist. Eine wesentliche Grundlage dürfte das religiöse oder auch das primitive „wilde Denken“ überhaupt sein. Gerade diese ausgeprägte anthropologische Komponente, die dem Freund-Feind-Schema Carl Schmitts ebenso zugrundeliegt wie den mythischen Gegensätzen von „Guten“ u. „Bösen“, garantiert den dauerhaften Erfolg der „Kampfideologie“. Stoisch zu denken heißt demgegenüber, sich vom Strickmuster der „wohlmeinenden Hellen und der üblen Dunklen“ zu emanzipieren.
    Wie danach dann praktische Politik aussieht, ist eine andere Frage. Wir Berater u. Mundwerksburschen des Regenten pflegen möglichst eine funktionalistische Sicht der Dinge u. entwickeln Handlungsszenarien nach den jeweiligen politischen Vorgaben. Man kann nicht behaupten, dass die politische Führung nicht an Warnungen interessiert sei. Man handelt aber nach anderen Ermessensgesichtspunkten u. vertraut auf die eigene effiziente Verwaltung sowie deutschen Tugenden. Kaum ein anderer als unsere Bundeskanzlerin weiß besser, wie man die Emotionen unserer Mitbürger anspricht. Ein übler Verstoß gegen das stoische Ideal.

    Es sei hier noch auf den bemerkenswerten Appell von Felix Menzel („Blaue Narzisse“) hingewiesen, die Anhänger der Neuen Rechten möchten praktische politische Kompetenzen erwerben. Sie haben sie nämlich nicht, u. je mehr Sezession sie treiben, umso weniger. Man könnte wohl nicht einmal ein Dorf verwalten. Wir Berater wissen das. Nach dem Untergang des Dritten Reiches waren da die alliierten Sieger („Befreier“). Nach dem Ende der DDR war da die BRD. Nach einem Zerfall der BRD, Frankreichs etc. ist keine Autorität mehr da. Hierfür versagen unsere Szenarien. Niemand will den Untergang. Darum „schaffen wir das“.
    [vO: Und mit damit verabschiedet sich der „Bausparer“, vormaliger „Theosebeios“, sein Wissen als Berater zukünftig für sich behaltend.]

  • […] Kampfideologie der Diktatur […]

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