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Notizen zur Utopie (2)

Als Renaissancehumanist schuf Thomas Morus an die klassische Antike anknüpfend eine erste neuzeitliche Utopie, indem er den platonischen Idealstaat zum lebensfernen Wunschbild überhöhte, das er notgedrungen in eine entlegene Weltgegend entrückte, während Platon sein als Modell der am vortrefflichsten geordneten Polis gedanklich irgendwo innerhalb des griechischen Siedlungsraumes angesiedelt hatte.  Dazu sei angemerkt, daß Utopia die latinisierte Wiedergabe des griechisch konstruierten Kunstwortes ou-topos, Nicht[-auf Erden zu findender]-Ort, ist; Thomas Morus hätte angesichts des masculinen „topos“ eigentlich von einem Utopius sprechen müssen, doch da er den Nicht-Ort auf einer Insel, insula, lokalisierte, nannte er diese Utopia. – Wie Platon in seinem letzten Werk, den „Gesetzen“ eine der Lebenswirklichkeit noch nähere Staatsverfassung entwarf, so spricht auch Thomas Morus von den den Utopiern benachbarten Makariern; bei letzteren ist das Privateigentum nicht abgeschafft, doch man begrenzt es, indem das Gesetz es dem König verbietet, daß sein Staatsschatz mehr als eintausend Pfund in Gold oder eine entsprechende Summe in Silber umfaßt, wobei stillschweigend vorausgesetzt sein dürfte, daß jedes Privatvermögen weit niedriger ist. Doch während die „Gesetze“ das umfangreichste Werk Platons bilden, werden die Makarier an nur einer einzigen Stelle der „Utopia“ erwähnt.*

*s. Erstes Buch – Makarier von griech. makarios, glückselig

Gemäß der „Utopia“ beseitigt die Aufhebung des Privateigentums bei den Utopiern den Diebstahl,* die Armut,** sowie [durch die gleichmäßige Verteilung aller Güter] die Bevorzugung der Reichen bei der Besetzung von Ämtern,*** und jeder wird dort ausschließlich für das Gemeinwohl tätig sein, wo er der Sorge um sich selbst enthoben ist.****

* Erstes Buch

** Erstes Buch

*** Erstes Buch

**** Zweites Buch, Von den Religionen der Utopier

Nicht einmal zehn Jahre nach dem Erscheinen der „Utopia (1516)“ brach der deutsche „Bauernkrieg“ aus (1524 – 1525), und Thomas Müntzer* der wohl prominenteste Anführer der revoltierenden Bauern, ein Priester wie der Engländer John Ball, bekannte sich zur kommunistischen Utopie, wenn auch erst unter der Folter: „omnia sunt communia“, alle Dinge sind [von Natur her den Menschen] gemeinsam, d.h. es darf eigentlich kein Privateigentum geben. Dieses Bekenntnis verweist nicht nur zurück auf Thomas Morus und seine „Utopia“, sondern zugleich auf das Neue Testament, denn in der Apostelgeschichte heißt es an einer Stelle von den Angehörigen der Jerusalemer Urgemeinde „erant illis omnia communia“,** jenen waren alle [Dinge] gemeinsam. – Wenn Platos Idealstaat nicht das Leben der großen Menge beschreibt, sondern das auf Privatbesitz verzichtende Leben einer kleinen Elite, dann wird dies am ehesten in einer klösterlichen Gemeinschaft verwirklicht, während Thomas Morus es auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen will, und so spricht auch Thomas Müntzer nicht mehr vom Verzicht auf Privateigentum innerhalb einer kleinen Gemeinschaft,*** denn die gesamte Gesellschaft sollte sich zu einer egalitären Gemeinschaft von Bauern ohne Klöster und fürstliche Obrigkeit wandeln, damit die „Utopia“ als Gottesreich vom Nicht-Ort zur Wirklichkeit auf Erden werde.

* geb. wohl 1489, gest. 1525 (hingerichtet)

** Acta 4, 32

*** Überdies wurde in der Urgemeinde niemand dazu gezwungen, auf sein gesamtes Privateigentum zu verzichten, s. Acta 5.

Thomas Müntzer knüpft offenbar einerseits an Thomas Morus an und damit an die heidnische Antike, andererseits an das Neue Testament, an die christliche Überlieferung. Dadurch erhält die Utopie geistliche Qualität; sie ist nicht mehr nur gelehrtes Gedankenspiel, sondern soll im Glauben an Gott verwirklicht werden. – So war die geistige Voraussetzung geschaffen worden zu einer Erneuerung des altkirchlichen Chiliasmus, der sich von der sehr diesseitig gedachten messianischen Hoffnung des Judentums inspirieren ließ. Vom Judentum – und von Hans Hut* – ließ sich der Wiedertäufer Augustin Bader** dazu anregen, für das Osterfest am 17. April 1530 den Anbruch des tausendjährigen Reiches vorherzusagen. Um sich von solchen Irrlehren zu distanzieren spricht Melanchthons*** Augsburger Bekenntnis von 1530 hinsichtlich des tausendjährigen Reiches von „judisch Lehren“, „judaicas opiniones“, die man lutherischerseits verwerfe.**** Bader, der bereits bei seiner Gefangennahme 1527 dem Täufertum abgeschworen hatte und danach sogleich wieder freigelassen worden war, schaffte sich vor dem Frühjahr 1530 bereits die Insignien der künftigen Königsherrschaft an, wurde jedoch festgenommen und nach Folter und Verurteilung mit seinem eigenen Königsschwert hingerichtet.

* geb. ca. 1490, gest. 1527 (vor der Hinrichtung durch ein wohl von ihm selbst in seinem Gefängnis gelegtes Feuer umgekommen) – Hans Hut sagte den Anbruch des tausendjährigen Reiches für Pfingsten 1528 voraus, wobei er inhaltlich an Thomas Müntzers Vorstellung vom Reich Gottes auf Erden festhielt, jedoch den Termin des Anbruchs berichtigte, da Müntzer den Bauernkrieg von 1524 bis 1525 als anhebendes Endgericht betrachtet hatte.

** geb. ca. 1495, gest. 1530 (hingerichtet am Mittwoch nach Laetare)

*** Philipp Schwarzerdt, griech. Melanchthon; geb. 1497, gest. 1560

**** Confessio Augustana XVII

Augustin Bader hatte – von der Kabbala des Abraham Eliezer ha-Levi ha-Zaqen* beeinflußt – nicht nur den Anbruch des tausendjährigen Reiches 1530 erwartet, sondern auch, daß sein kleiner Sohn dann als Messias anerkannt werde, während er sozusagen als dessen Reichsverweser tätig würde. – Wenige Jahre nach Baders Tod gelangten die Wiedertäufer in der Stadt Münster an die Macht, nachdem dort die Reformation durchgeführt worden war; Münster bildete ab 1534 das Zentrum des Wiedertäufertums. Man sah in der Stadt Münster den Platz des Neuen Jerusalem** und erwartete für Ostern 1534 das Jüngste Gericht; als es ausblieb, etablierte sich in der bereits belagerten Stadt eine theokratische Königsherschaft. Ihr paßte man auch das Recht an, wobei man sich möglicherweise am Judentum orientiert haben wird, denn seit dem Hochmittelalter hatten die Synagogengemeinden eine Selbstverwaltung erlangt, die auch ein eigenes Zivilrecht auf der Grundlage von Altem Testament und Talmud einschloß.

* geb. ca. 1460, gest. 1529; Abraham Eliezer hatte den aramäischen Text einer mittelalterlichen Schrift mit dem hebr. Titel Nebu’ath haj-jäläd, Prophezeiung des Kindes, kommentiert.

** vgl. Apok. 21

Nach dem Fall Münsters (1535) zogen zahlreiche Wiedertäufer nach England, wo ihre chiliastischen Hoffnungen – angesichts der spätmittelalterlichen Geschichte des Landes – einen äußerst fruchtbaren Boden vorgefunden haben dürften. – Die Wiedertäufer des kontinentalen Europa hingegen entsagten unter dem Einfluß des abgefallenen Priesters Menno Simons* dem Chiliasmus und wandelten sich zu einer friedliebenden Glaubensgemeinschaft, die ihr Hauptaugenmerk darauf richtete, sich von der übrigen Welt zurückzuziehen.

* geb. mögl. 1496, gest. 1561; ein Schüler Melchior Hofmanns (geb. ca. 1500, gest. 1543), der den Chiliasmus zwar nicht aufgab und ebenfalls auf die Vernichtung aller anderen hoffte, dieses aber nicht gewaltsam in die Tat umzusetzen suchte, sondern er überließ es Gott; Hofmann sah in Straßburg das Neue Jerusalem, in dessen Kerker er die letzten zehn Jahre seines Lebens als Insasse zubrachte.

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