Die Entstehung der anti-racistischen Ideologie (11)
Nachdem der Roman „Uncle Tom‘s Cabin“ 1852 erschienen war, vergingen nur siebzehn Jahre, bis die schwarzen Männer in den USA nach dem Ende des Bürgerkrieges das Wahlrecht erhielten (1869). Angesichts der Realität erwies sich die Zukunftshoffnung der Autorin als Luftschloß, denn die schwarzen Männer dachten im allgemeinen kaum daran, die weiße us-amerikanische Frauenbewegung zu unterstützen, und es entwickelte sich keine schwarze Kultur, die die weiße überflügelnd weiße Frauen von der Vorherrschaft ihrer Ehemänner und Väter befreit hätte. – Es wurden 1869 die New Yorker National Woman Suffrage Association und die Bostoner American Woman Suffrage Association gegründet, die sich 1890 zusammenschlossen. Die us-amerikanische Frauenbewegung verlor den anti-racistischen Aspekt und beschränkte sich notgedrungen auf den anti-sexistischen, indem sie sich vorerst auf die Forderung nach dem Frauenwahlrecht konzentrierte und, unterstützt – ins Besondere von erweckten – kirchlichen Kreisen, für ein Alkoholverbot stritt.
Beides setzte die us-amerikanische Frauenbewegung durch: 1919 wurde die Prohibition durch den achtzehnten Zusatzartikel in der us-amerikanischen Verfassung verankert, der 1920 in Kraft trat; in diesem Jahr beschloß man das Frauenwahlrecht mittels des neunzehnten Zusatzartikels. – Nun sollte ein irdisches Paradies entstehen; der damals überaus bekannte protestantische Geistliche Reverend Billy Sunday*, der sich – reich geworden – damit brüstete, gegen zwei Dollar Eintrittsgeld zu seinen Predigt-Veranstaltungen jede Seele zu bekehren, „for two dollars a soul“, derselbe Sunday prophezeite angesichts der Prohibition: „The reign of tears is over. The slums will soon be only a memory. We will turn our prisons into factories and our jails into storehouses and corncribs. Men will walk upright now, women will smile, and the children will laugh. Hell will be forever for rent.“ Das Reich der Tränen ist über[standen]. Die Elendsquartiere werden bald nur noch der Erinnerung angehören. Wir werden unsere Gefängnisse in Fabriken umwandeln und unsere Haftanstalten in Warenhäuser sowie Getreidespeicher. [Die] Männer werden sich fortan aufrecht bewegen, [die] Frauen werden lächeln und die Kinder lachen. Die Hölle wird für immer zur Vermietung [stehen, weil sie leer ist].** – Stattdessen blühte das organisierte Verbrechen auf, und 1933 wurde die Prohibition unter dem neugewählten Präsidenten Franklin D. Rooseveelt*** durch den einundzwanzigsten Zusatzartikel wiederaufgehoben.
* eigentl. William Ashley Sunday; geb. 1862, gest. 1935; als berühmter Baseballspieler erlebte er 1886 seine Erweckung und wurde 1903 als presbyterianischer Geistlicher in Chicago ordiniert, obwohl er z.B. auf die Frage nach Augustinus antwortete, er kenne den Namen nicht, so daß es sich zumindest nicht um einen Baseballspieler der National League handeln könne; eigentl. galt Sunday die Ordination auch als überflüssig, da er wie sein Lehrmeister J.[ohn] Wilbur Chapman (geb. 1859, gest. 1918) seit 1895 selbständig als ein Eintrittsgeld erhebender „Evangelist“ das Land predigend durchzog.
** Während des 1. Weltkrieges (1914 – 1918) hatte Billy Sunday die USA samt Präsidenten mit dem Himmel (heaven) identifiziert, Deutschland samt Kaiser mit der Hölle (hell); da war letztere bereits unterlegen.
*** Franklin D.[elano] Roosevelt; US-Präsident 1933 – 1945; geb. 1882, gest. 1945
Während Präsident Roosevelt der Tradition der europäischen Aufklärung in den USA angehörte, protegierte seine politisch umtriebige Gattin Eleanor*, die us-amerikanische Frauenbewegung. Dieser hatte sie sich während der zwanziger Jahre angeschlossen, nach der Geburt der Kinder und der Erkrankung ihres Ehemannes an Polio (1921), die der Ehefrau mehr Möglichkeiten eröffnete, Aufgaben in der Öffentlichkeit wahrzunehmen. Eleanor bevorzugte innerhalb der us-amerikanischen Frauenbewegung Tribadenkreise; sie bezog gemeinsam mit einem solchen Frauenpaar ein Haus (1924) und übernahm zusammen mit den beiden eine Mädchenschule (1926), welche eine der zwei Tribaden leitete, während Eleanor Roosevelt dort unterrichte.
* Eleanor Roosevelt, geb. Roosevelt (die Nichte Theodore Roosevelts, US-Präsident 1901 – 1909, und somit weitläufig verwandt mit ihrem Ehemann); geb. 1884, gest. 1962
1928 wurde Franklin D. Roosevelt zum Gouverneur New Yorks gewählt. Vier Jahre darauf, während des Präsidentschaftswahlkampfes, lernte Eleanor Roosevelt die Journalistin Lorena Hickok* kennen, eine öffentlich bekannte Tribade. Sie wurde die Vertraute und wohl auch Geliebte Eleanor Roosevelts während der ersten Jahre der Präsidentschaft des Ehemannes. Von Lorena Hickok inspiriert hielt Eleanor Roosevelt wöchentliche Pressekonferenzen ab, zu denen ausschließlich Reporterinnen zugelassen waren. Es gab Rundfunkbeiträge von Eleanor Roosevelt, und sie verfaßte Texte für Zeitungskolumnen; die bekannteste darunter ist „My Day“, mein Tag, die von 1936 an – bis zu ihrem Tode 1962 – täglich in mehreren Blättern erschien. Darin wird Eleanor Roosevelts Bemühen erkennbar, neben dem Anti-Sexismus erneut den Anti-Racismus in der us-amerikanischen Frauenbewegung zu etablieren, denn sie wendet sich in „My Day“ nicht nur an Frauen, sondern ebenfalls gern an Afro-Amerikaner.
* geb. 1893, gest. 1968
Zwar waren die Schwarzen längst rechtlich den Weißen im allgemeinen gleichgestellt, doch von gesellschaftlicher Gleichheit konnte keine Rede sein. Wenn die Schwarzen nicht – wie von Harriet Beecher-Stowe erwartet – zum Retter der weißen Frau geworden waren, dann mußte der Grund dafür nicht unbedingt bei ihnen selbst zu suchen sein; warum sollten nicht die weißen Männer fortwährend die Gleichwerdung der Schwarzen behindern, die sie doch aus der so komfortablen Position der Vorherrschaft verdrängen würde? Wenn man die Schwarzen in ihrem Bemühen um Gleichheit unterstützte, dann würden sie sich eben doch noch als wertvolle Bundesgenossen im Kampf gegen den weißen Mann erweisen. – Eine solche Hoffnung griff auf das von Harriet Beecher-Stowe entworfene Wunschbild zurück, möglicherweise ohne sich dessen recht bewußt zu sein, doch das Buch hatte weiteste Verbreitung gefunden, so daß seine Thesen sehr zahlreiche Gemüter affiziert haben dürften, die sich wiederum durch die weite Verbreitung ihrer aus „Uncle Tom‘s Cabin“ übernommenen Vorstellungen von Befreiung bestätigt gesehen haben werden.
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Der mit Eleanor Roosevelt erneut aufkommende feministische Anti-Racismus könnte Farbige dazu angeregt zu haben, sich das Konzept zu eigen zu machen, also nicht etwa nur nach Freiheit innerhalb der bestehenden Gesellschaft und nach Angleichung an die etablierte Kultur zu streben, sondern den weißen Mann als die ihnen nach wie vor übergeordnete Autorität und als von seinem Sockel zu stoßenden Feind zu betrachten. Der anti-sexistische Aspekt fand dabei keine Berücksichtigung, und Eva(ngelines) mit dem Ruch des Verrats bemakelte Hoffnung, daß mit dem Sturz des weißen Mannes der Tag ihrer Vorherrschaft über ihn anbrechen werde, erfüllte sich bisher nicht; sie mag weiter unbeirrt daran festhalten, selbst wenn sie von Tom hin und wieder vergewaltigt wird, denn schuld daran ist ja wiederum der weiße Mann, der Toms wahre Natur deformiert hat.
Bahnbrechend für die Entwicklung eines farbigen Anti-Racismus waren die Bücher eines von der Insel Martinique stammenden Psychaters, Frantz Fanon*, denn ihm gelang es zuletzt, den Anti-Racismus mit dem Marxismus insoweit zu verbinden, daß er den Farbigen bzw. Nicht-Weißen zum revolutionären Subjekt an Stelle des [weißen] Proletariers zu postulieren vermochte.
* geb. 1925, gest. 1961
Fanon war der Sohn eines Schwarzen und einer Mulattin; mütterlicherseits hatte er einen aus dem Elsaß stammenden weißen Großvater, und so meldete sich Fanon während seines Dienstes für die Freien Französischen Streitkräfte (FFL)* ab 1944 nach der Landung an der Côte d‘Azur für den Einsatz im Elsaß. Fanon nahm an der Kesselschlacht von Kolmar (Jan. – Febr. 1945) teil, und zwar als einer der wenigen schwarzen Soldaten der FFL dort, da die meisten von ihnen weiter südlich stationiert waren. – Obwohl Fanon den [nationalsozialistischen] Antisemitismus verurteilte, vermochte er sich nicht mit dem Krieg der [weißen] Alliierten gegen [das weiße] Deutschland zu identifizieren, wie er aus dem Elsaß nach Hause schrieb.
* Forces francaises libres
Nach Martinique zurückgekehrt engagierte sich Frantz Fanon im Wahlkampf Aimé Césaires*, eines Schwarzen, der dann erfolgreich zum Bürgermeister des Inselhauptortes Fort-de-France gewählt wurde und zum Abgeordneten der französischen Nationalversammlung (1945). Dort setzte sich Césaire erfolgreich dafür ein, daß Martinique den Status eines Überseedepartements erhielt (1946); die Insel war bis dahin eine französische Kolonie gewesen.
* geb. 1913, gest. 2008
1947 nahm Fanon ein Medizinstudium in Lyon auf. Zwei Jahre später lernte er die – einem politisch linksgerichteten Elternhaus entstammende – weiße Französin Marie-Josèphe „Josie“ Dublé* kennen. 1952 heirateten sie, und drei Jahre darauf kam ihr Sohn Olivier zur Welt. – 1951 hatte Fanon promoviert; danach wurde er Assistenzarzt für Psychiatrie in der Nähe von Lyon. Zwei andere Stellen bekleidete er noch, bis er Ende 1953 die Leitung der seit 1927 existierenden Psychatrischen Klinik im algerischen Blida übernahm; im folgenden Jahr begann der algerische Unabhängigkeitskampf (1954 – 1962) gegen die französische Kolonialherrschaft.** 1956 gab Fanon seine Tätigkeit in Blida auf und siedelte im Jahr darauf mit seiner Familie nach Tunis über, wo er sich den algerischen Freiheitskämpfern der FLN*** anschloß, die in der tunesischen Hauptstadt ihr Hauptquartier hatten.
* geb. 1931, gest. 1989 (Selbstmord)
** In demselben Jahr 1954 unterlag Frankreich den Viet Minh in der Schlacht von Dien Bien Phu und gab die Kolonie Indochina auf.
*** Front de libération nationale
1959 wurde Fanon von der provisorischen algerischen Regierung zum ersten Botschafter des Landes im zwei Jahre zuvor unabhängig gewordenen Ghana ernannt, womit man sich elegant des unbequemen Freiheitskampftheoretikers entledigte. – Mehreren Anschlägen entging Fanon, doch Ende 1960 wurde Leukämie bei ihm diagnostiziert. Behandlungen in der UdSSR und in den USA richteten wenig aus: Am Ende des Jahres 1961 verstarb Fanon in Bethesda (Maryland). – Seine Witwe lebte später im unabhängigen Algerien als international tätige „fortschrittliche“ Journalistin, bis sie sich in Algier umbrachte (1989).
Im Jahre 1952 diktierte der Assistenzarzt Fanon seinen Text „Schwarze Haut, weiße Masken“* der an einer Schreibmaschine sitzenden künftigen Gattin Josie Dublé. Was sie dort von dem unter weißen Frauen angeblich verbreiteten Wunsch nach Vergewaltigung durch Schwarze zu hören bekam, befremdete Josie Dublé offenbar nicht, jedenfalls nicht in solchem Maße, daß sie von einer Eheschließung abgesehen hätte; möglicherweise beeindruckte sie vielmehr, was sie über die Leiden jedes Schwarzen unter den Weißen tippend zu Papier brachte. – Es ist durchaus denkbar, daß der an verschiedenen Hochschulen in den USA lehrende Marcuse**, der sich seit 1942 mit Freuds*** Schriften befaßt hatte, auf Fanons erste Veröffentlichung „Peau noir, masques blancs“ aufmerksam wurde, denn als ein – u.a. für Freuds Lehre aufgeschlossener – Psychiater schien Fanon der in vielfältiger Weise mit der Psychoanalyse verbundenen Frankfurter Schule gar nicht fernzustehen, und wenn Fanon in seinem 1952 erschienenen Buch eine Rückbesinnung auf das Schwarzsein forderte, was eine Abkehr von der Vernunft zu Gunsten der Intuition implizierte, dann ließ sich dies durchaus mit Horkheimers**** Verständnis der klassenlosen Gesellschaft als Zustand uneingeschränkter Befriedigung der Triebe vergleichen. Marcuse entwickelte nun seine eigene Konzeption einer ursprünglich polymorphen Sexualität des Menschen, der dessen gesamter Körper natürlicher Weise diene. Fanons „Peau noir, masques blancs“ mag Marcuse bei der Abfassung seines ersten Hauptwerkes „Eros and Civilization (1955)“ also bekannt gewesen sein.
* „Peau noir, masques blancs (1952, dtsch. „Schwarze Haut, weiße Masken, 1980)“
** Herbert Marcuse; geb. 1898, gest. 1979
*** Sigmund Freud; geb. 1856, gest. 1939
**** Max Horkheimer; geb. 1895, gest. 1973
***** „Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud (1955; dtsch. Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, 1965)“
„Peau noir, masques blancs“ geht davon aus, daß die afrikanische Kultur des Altertums der weißen überlegen war, auch in der Technik. Es habe in Schwarzafrika Schulen, Krankenhäuser, eine allen gerecht werdende soziale Ordnung und eine alle zufrieden stellende [heidnische] Religion gegeben; die Kunst habe in Blüte gestanden, und Mythen hätten die [auf Vernunft gegründete] Wissenschaft ersetzt. Kurz: Man lebte in Afrika in einer Art irdischem Paradies, bis Ende des 15. Jahrhunderts die weißen Kolonisatoren auftauchten. Deren Zivilisation und die Vernunft entsprechen einander; sie sind weiß: Fanon will zum Gefühl zurück, zur Intuition an Stelle des Verstandes. – Man könnte meinen, Harriet Beecher-Stowes Afrika der Zukunft sei hier in die Vergangenheit zurückversetzt worden. – Fanon zitiert als Beleg für sein phantastisches Afrika der Vergangenheit ausführlich ein Vorwort, das Aimé Césaire für eine 1948 unter dem Titel „Esclavage et colonisation“, Sklaverei und Kolonisation, erschienene Blütenlese von Texten des elsässischen Abolitionisten Victor Schoelcher* verfaßt hatte. Dort wird, nur um die Qualität des Césaire-Textes anzudeuten, dessen Auslassungen sich Fanon anschließt, sogar auch ein historisches Datum genannt: Die Entdeckung der Kongomündung durch die Portugiesen (1482); diese wird freilich auf 1498 datiert,** auf dasjenige Jahr also, in dem die Portugiesen bereits Indien erreichten, nachdem sie den Seeweg um Afrika herum erkundet hatten: Es kommt eben nicht so sehr darauf an, ob eine behauptete Tatsache exakt zu belegen ist und inwieweit sie überhaupt zutrifft, sondern viel wichtiger ist doch offensichtlich, daß man die richtige Geisteshaltung aufweist für die Auseinandersetzung mit der Geschichte, und dann wird etwas wirklich, weil man es sich so sehr wünscht.
* geb. 1804, gest. 1893
** Chapitre V
Das kolonisierte Volk [von Nicht-Weißen] hat seine kulturelle Eigenart verloren und daher einen Minderwertigkeitskomplex.* Es richtet sich sprachlich – und damit in seinem ganzen Dasein – an den Kolonisatoren aus, an deren [auf Vernunft gegründeter] Zivilisation. So schafft sich der schwarze Kolonisierte ein weißes Dasein; er wird damit gewissermaßen weiß, doch ist dies nur seine Maske; seine Haut, seine wahre Natur bleibt sozusagen schwarz.** – Der Grad der Annäherung an den [etablierten] Weißen bestimmt den gesellschaftlichen Rang innerhalb des kolonisierten Volkes, so Fanon, der damit Erfahrungen der Anpassung, die auch der weiße Aufsteiger macht, allein dem Kolonisierten zugeschreibt, d.h. ein soziales Phänomen wird auschließlich biologisch bzw. racisch verstanden.***
* Von einem „complexe d‘infériorité“ hatte bereits Aimé Césaire (in seinem „Discours sur la Colonialisme, 1950“) gesprochen.
** Chapitre I
*** Chapitre I – Schon bei Aimé Césaire (vgl. Peau noir, masques blancs, Chapitre V) stehen die Weißen für das Kapital und die Schwarzen für das Proletariat, d.h. gesellschaftliche bzw. soziale, politische Aspekte werden biologistisch umgedeutet, so daß der Racenkampf an die Stelle des Klassenkampfes tritt. – Die von Césaire hergestellte Verbindung von Befreiung der Kolonialvölker und Marxismus deutet sich bei Fanon 1952 jedoch noch nicht an.
Die Anpassung an das Weißsein kann den Schwarzen nie in die Lage versetzen, ein gleichberechtigtes Mitglied der weißen Gesellschaft zu werden, denn in der Welt der Weißen nimmt der Schwarze stets die Rolle des Wilden, des Boshaften ein, von dem man bzw. jeder einzelne sich zu reinigen hat; Fanon spricht von kollektiver Katharsis.* Daran kann der Schwarze nicht teilnehmen, denn er steht ja gerade für das Böse und kann sich nicht von sich selbst, seiner eigenen Natur reinigen. – Weil der Schwarze für das Böse steht, wird der Weiße den Schwarzen immer hassen.** Daher soll der Schwarze, statt sich der weißen Kultur anzupassen, sich auf sich selbst zurückbesinnen; damit schließt sich Fanon Forderungen an, die zuerst von Léopold Sédar Senghor*** und Aimé Césaire erhoben wurden, die damit die Négritude begründeten, eine literarische Rückbesinnung auf ihr Schwarzsein.****
* Chapitre VI
** s. Chapitre V
*** geb. 1906, gest. 2001
**** s. Chapitre V – Übrigens brach Fanon 1958 mit Césaire, da dieser sich für eine volle Integration Martiniques in die französische Republik aussprach, während Fanon die Unabhängigkeit der Insel forderte. Im Gegensatz zu Césaire war Fanon nach seinem Tode auch nicht sehr populär auf Martinique.
Fanon vergleicht den Schwarzen mit dem Juden. Doch während dieser als intellektuelle Gefahr erscheint, wird der Neger als biologisch-geschlechtliche Gefahr betrachtet.* Fanon entwickelt den Begriff der „Negrophobie“ des Weißen, der ihm Schwarzen ganz allgemein das Biologische, also auch das Triebhafte, nicht Vernunftgemäße, und im Besonderen das Geschlechtliche sieht; verbotene Phantasien werden auf die Schwarzen projiziert. – Im Text von „Peau noir, masques blancs“ wird „négrophobie“ an einer Stelle*** erwähnt. Öfter benutzt Fanon**** „(des) négrophobe(s)“ als Substantiv, die Negrophoben, und Adjektiv, negrophob. Da kein früherer Beleg des – inzwischen weit verbreiteten – Ausdruckes „Phobie“ im Zusammenhang mit der Ablehnung von Menschen aus kulturellen, racischen o.ä. Gründen vorhanden zu sein scheint (Homophobie, Islamophobie etc.), wird Fanon diesen Sprachgebrauch mit „Peau noir, masques blancs“ beründet haben; dies würde zur Wiederentdeckung seines Werkes ab etwa 1980 gut passen, da die sich zu jener Zeit konstituierende Neue Linke den Begriff der „Phobie“ nur allzu oft benutzt.
* Capitre VI: „Le négre est le génital.“ Der Neger ist das Genitale.
** passim
*** in Chapitre VI
**** in Chapitre III und Vf.
Den Ansatzpunkt für eine Rückbesinnung auf das Schwarzsein bildet bei Fanon die schwarze Familie im Gegensatz zur weiß dominierten Gesellschaft: In den schwarzen Familien sei die sonst von der weißen verdrängte Kultur noch vorhanden. – Wie im gesamten übrigen Buch wird auch an dieser Stelle kaum argumentiert, sondern auf Behauptungen anderer verwiesen; hinsichtlich der Bewahrung der schwarzen Familie vor der weißen Kultur wird zur Begründung jedoch immerhin darauf verwiesen, daß der Ödipuskomplex bei Schwarzen kaum vorhanden sei: Wenn er innerhalb von schwarzen Familien nicht hervorgebracht werde, dann müßten diese sich doch von den weißen grundlegend unterscheiden, und das sei eben so zu verstehen, daß dort die schwarze Kultur überlebt habe.* In der Familie erlebt sich der Schwarze daher noch als identisch mit seiner Herkunft bzw. seinem Schwarzsein. Erst jenseits der Familie, d.h. in der [weißen] Gesellschaft, wird der Schwarze mit dem Weißsein konfrontiert, das ihn nötigt, den vorherigen Zustand zu verdrängen und sich eine weiße Maske zuzulegen.**
* s. Chapitre VI – Wie Fanon unter diesen Umständen eine Weiße heiraten konnte, was doch für seinen eigenen Nachwuchs unabsehbare negative Folgen haben konnte, z.B. in Gestalt eines Ödipuskomplexes, bleibt unerfindlich.
** Chapitre VI
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