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Gedankensplitter (23. Juni 2016)

Die Wahlbürger Großbritanniens erhalten heute die einzigartige Gelegenheit, ihr Land aus der EU herauszulösen. Was für ein Elend die EU bildet, läßt sich m.E. gut veranschaulichen durch die Aufzählung einiger Geschehnisse, die sich während der letzten drei Monate in und rund um die Türkei ereignet haben. Ihren eigenen Ansprüchen gemäß hätte die EU den türkischen Staat als einen Beitrittskandidaten mit den schärfsten Sanktionen überziehen müssen; doch außer einigen mahnenden Worten war nichts zu vernehmen, und die wurden von Präsident Erdogan u.a. als unerwünschte Demokratie-Lektionen des Westens verhöhnt.

Meldungen April:

Das gegen den türkischen Präsidenten Erdogan gerichtete sog. Böhmermann-Gedicht führt zu Verstimmungen zwischen der BRD und der Türkei, obwohl dieser Beitrag vom ZDF aus der von Zuschauern wiederaufzurufenden Sendung entfernt worden war, obwohl Kanzlerin Merkel das sog. Gedicht als „bewußt verletzend“ benotete, was sie allerdings später selbstkritisch als Fehler bezeichnete, obwohl staatsanwaltschatlich ermittelt wurde und obwohl ein deutsches Gericht wegen der Beleidigung des türkischen Präsidenten gegen den Verfasser des Gedichtes verhandelte; mehrmals wurde der deutsche Botschafter in der Türkei vorgeladen. – Nadelstiche wie die Verweigerung der Einreise eines deutschen Journalisten, der syrische Flüchtlinge hatte interviewen wollen, folgten; der Journalist wurde zwölf Stunden auf dem Istanbuler Flughafengelände festgehlten und hatte anschließend den Rückflug anzutreten.

In Diyarbakir, dem antiken Amida, heute gelegen im Südosten des Staates Türkei, wo Erdogan im Juli 2015 mit Blick auf anstehende Parlamentswahlen* einen Bürgerkrieg angezettelt hatte, werden nun sechs Kirchen beschlagnahmt, eine davon über 1700 Jahre alt, nämlich die Marienkirche der monophysitischen Syrisch-Orthodoxen; hinzu kommen zwei Kirchen der katholischen Chaldäer, eine armenisch-katholische Kirche, eine Kirche armenischer Monophysiten und eine protestantische Kirche. Zehn Monate lang war zuvor den Gläubigen der Zutritt zu ihren Kirchen verwehrt worden.

* Im Juni 2015 hatte die AKP ihre absolute Mehrheit verloren wegen des Einzugs der pro-kurdischen HDP ins Parlament; im November 2015 erlangte die AKP wieder die absolute Mehrheit.

Nicht nur gegen die Kurden geht die türkische Regierung vor, auch gegen die Christen im Lande. So kommt es zur Schließung der letzten Kirche in Bursa, dem antiken Prusa, obwohl die Stadt weit entfernt liegt vom Bürgerkriegsschauplatz; dasselbe war den Enteignungen zu Diyarbakir vorangegangen. Angekündigt wird auch die Enteignung des Patrarchats von Konstantinopel. Kurz zuvor verlor der Patriarch bereits das Nutzungsrecht am orthodoxen Kloster auf der Insel Chalki, türkisch Heybeliada, nachdem der türkische Staat das Kloster bereits in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschlagnahmt hatte. – Der türkische Parlamentspräsident fordert Ende April eine islamische Verfassung.

Die EU-Kommission verkündet im April, es gebe „gute Fortschritte“ bei den Verhandlungen über Visumfreiheit mit der Türkei. – Wenige Tage darauf folgt eine Reise der Kanzlerin in die Türkei, die solch gestellte Bilder liefert, daß selbst systemtreue deutsche Medien sich darüber mokierten.

Meldungen Mai:

Ministerpräsident Davutoglu tritt zurück; er arbeitete bei dem Umbau der Atatürk-Republik in eine islamische Präsdidialdictatur offenbar nicht willig genug mit. – Ein Referendum über die geplante Verfassungsänderung wird in Aussicht gestellt.

Zwei türkische Journalisten, die über türkische Waffenlieferungen an syrische Extremisten berichtet haben, werden – nach einer Gerichtsverhandlung unter Ausschluß der Öffentlichkeit – zu fünf Jahren Haft wegen Geheimnisverrat verurteilt; ein Verfahren wegen Unterstützung einer Terrororganisation folgt noch.

Präsident Erdogan brüskiert die EU mit seiner öffentlichen Zurückweisung der Forderung nach Änderung der türkischen Anti-Terror-Gesetze; deren weitgefaßte Bestimmungen es ermöglichen, mißliebige Personen als Terrorunterstützer zu verdächtigen und zu verfolgen.

Die Aufhebung der Immunität zahlreicher Abgeordneter wird im türkischen Parlament beschlossen. Dies richtet sich hauptsächlich gegen die pro-kurdische HDP; zwar sind auch andere Parteien davon betroffen, doch bei der HDP sind es 50 von 59 Abgeordneten.

Präsident Erdogan droht der EU mit der Aufkündigung des Refugee-Tauschabkommens, wenn es keine Fortschritte hin zu einer Visumfreiheit für Reisen von Türken in die EU gebe.

Meldungen Juni:

Was bereits im Mai gemeldet wurde, hat sich nun bestätigt: Die Türkei läßt höher qualifizierte Syrer nicht in Richtung EU ausreisen, selbst wenn sie ein Visum vorweisen können. – Zugleich verteilt die Türkei tausende von Touristenvisa täglich an Iraqer: Sollen die westwärts nur bis Anatolien ziehen?

Der EU-Botschafter in Ankara, ein Deutscher, der bereits im Mai ins Außenministerium zitiert worden war, gibt sein Amt nun auf; Grund dafür soll ein „Zerwürfnis“ mit der türkischen Regierung sein.

[Vorerst nur] während des Ramadan dient die Hagia Sophia wieder – wie nach 1453 – als Moschee.

Das Gezi-Park-Projekt wird durch Präsident Erdogan reaktiviert, nachdem man sich wegen der Unterdrückung der Istanbuler Proteste in der EU vor drei Jahren doch so echauffiert hatte; immerhin kamen damals mehrere Menschen um‘s Leben.

Während der – trotz türkischer Drohungen erfolgten – Verurteilung des osmanischen Massenmordes an den Armeniern vor 100 Jahren als Völkermord durch den Bundestag taucht die Regierungsspitze aus Kanzlerin, Vizekanzler und Außenminister ab. Die Türkei beruft ihren Botschafter aus Berlin ab undzitiert den Geschäftsträger der deutschen Botschaft ins türkische Außenministerium. Drohungen aus der Türkei richten sich gegen ins Besondere die türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten; „Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, hatte Erdogan bereits 2008 in Köln verkündet. Jetzt argwöhnte er, daß das Blut der elf türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten, die der Armenienresolution zugestimmt hatten, kein rein türkisches sein könne.

Was unternimmt die Türkei, das für die Mitgliedsstaaten der EU förderlich, nicht schädlich wäre? Nichts. – Das Refugee-Tauschabkommen dient ihr offensichtlich nur dazu, die Befreiung von der Visumpflicht zu erpressen.

Mag Präsident Erdogan sich aufführen, wie immer er will, die EU läßt von ihrem offenkundigen Plan, die Türkei in die EU aufzunehmen, nicht ab. So hat Brüssel gestern – gemäß einer Zusage aus dem vergangenen März – für den 30. Juni die Eröffnung eines neuen Kapitels in den Beitrittsverhandlungen, nämlich Nr. 33: Finanz- und Haushaltsbestimmungen, angekündigt.

Zu selben Zeit gibt die EZB bekannt, griechische Staatsanleihen trotz ihres Ramschniveaus ab dem 29. Juni wieder als Sicherheiten zu akzeptieren. – Was muß noch alles geschehen, bis Konsequenzen gezogen werden? Um es mit dem ins Gegenteil verkehrten Ausspruch eines früheren sozialdemokratischen Politikers zu sagen: Es müßte doch längst schon auseinanderfallen, was nicht – zumindest nicht in der Form einer EU – zusammengehört. – Wenigstens ein Brexit? Leider sieht es nicht danach aus. Zumindest der Blick auf das Börsenorakel, die Kursentwicklung der letzten Tage, läßt angesichts der daraus erkennbaren Zuversicht wenig Gutes erwarten.

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