Inhaltsverzeichnis

Notizen zur Utopie (3)

Der Fall Münsters im Jahre 1535 markierte einen tiefen Einschnitt in der Entwicklung des Wiedertäufertums. Der überwiegende Teil derjenigen, die den Chiliasmus nicht aufgeben wollten, verließ anscheinend das kontinentale Europa und ließ sich in England nieder. So war es möglich, daß sich der zurückbleibende Teil rasch umorientierte und sich in eine – den Münsteraner Wiedertäufern geradezu entgegengesetzte – Gemeinschaft von Pazifisten transformierte.

Der kontinental-europäische Chiliasmus verschwand, doch es blieb die sozusagen wissenschafliche Utopie der Humanistenkreise bestehen, aus der der Chiliasmus hervorgegangen war. Gelehrte Geistliche setzten fort, was Thomas Morus begonnen hatte. So entstand bald nach Beginn des 17. Jahrhunderts der „Sonnenstaat“ des italienischen Dominikaners Tommaso Campanella.* Ebenfalls noch vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges (1618) erschienen drei Rosenkreuzer-Schriften, die wahrscheinlich verfaßt wurden von dem lutherischen Geistlichen Johann Valentin Andreaes aus Herrenberg im Württembergischen; er entstammte zwar einer lutherischen Familie, war jedoch vom Calvinismus entscheidend geprägt und suchte dessen Auffassung von Kirchenzucht als junger Geistlicher ab 1614 in Vaihingen an der Enz vergeblich durchzusetzen. Die 1614 bis 1616 erschienenen Rosenkreuzer-Schriften handeln von einem mittelalterlichen Geheimbund und deren Programm einer „general Reformation“ von Gesellschaft und Religion. Tatsächlich bildeten sich später, während des 18. Jahrhunderts, Rosenkreuzer-Gemeinschaften, die den Geheimbund der utopischen Rosenkreuzer-Schriften zu verwirklichen suchten.***

* geb. 1568, gest. 1639; „La Città del Sole (1602)“

** geb. 1586, gest. 1654; „Fama Fraternitatis (1614)“, „Confessio Fraternitatis (1615)“, „Chymische Hochzeit (1616)”

*** Bei den Rosenkreuzern geht die utopische Hoffnung vom Chiliasmus und dem manichäischen Denken fort zu einer evolutionären Sicht, zu verwirklichen durch erleuchtete Subjekte; dies scheint der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts zu korrespondieren. – In der Tradition der Gelehrten-Utopie steht auch noch Francis Bacons „New Atlantis. A Worke unfinished (1627)“.

Die Wiedertäufergemeinden in England müssen sich noch während des 16. Jahrhunderts in ihrer theologischen Ausrichtung grundlegend gewandelt haben; Einzelheiten dieses Prozesses werden kaum mehr aufzuhellen sein. An dessen Ende aber wird das Resultat sichtbar: Ein Teil der Wiedertäufer hat den Chiliasmus mit seinem manichäischen Denken nicht aufgegeben, sondern ihn mit dem Calvinismus verknüpft, der dadurch eine Zuspitzung erfährt, indem die Lehre einer doppelten Praedestination ins Zentrum des Bekenntnisses tritt. – Wahrscheinlich verbanden sich die kontinental-europäischen Wiedertäufer im Exil mit englischen Calvinisten, Presbytaerianern, was dazu führte, daß ein Teil der Täufer-Gemeinden calvinistisch gesonnen die Praxis der Wiedertaufe aufgab, nicht aber den Chiliasmus; so entstanden die Congregationalisten. Andere wandten sich ebenfalls dem Calvinismus zu, gaben aber den Chiliasmus auf und blieben zugleich bei der Praxis der Wiedertaufe, die Particular Baptists. Diejenigen Wiedertäufer hingegen, die den Chiliasmus aufgaben, ohne zugleich den Calvinismus mitsamt der Lehre der doppelten Praedestination anzunehmen, bildeten die General Baptists abseits des Puritanismus. Dieser zeigte sich – konstituiert durch Presbyterianer, Congregationalisten und Particular Baptists – ab Ende des ersten Viertels des 17. Jahrhunderts in seiner Vollgestalt; dabei bildeten die Independenten bzw. Congregationalisten mit ihrem Chiliasmus sein radikales Zentrum.

* Johannes Calvin(us), franz Jean Cauvin; geb. 1509, gest. 1564

Als geistlicher Vater des Puritanismus gilt William Perkins*. Er vertrat die Lehre einer doppelten Praedestination. Danach beruht der erlösende Glaube nicht auf der Entscheidung eines freien Willens, sondern wird gemäß Erwählung geschenkt. Christus starb allein für die Erwählten; die Taufe wirkt nur bei Erwählten, doch alle Menschen haben sich um gute Werke zu bemühen. – Auch bei äußerlichem Verbleib in der anglikanischen Staatskirche schlossen sich die Puritaner zu eigenen Gemeinden zusammen. Während die Presbyterianer eine protestantische Dictatur befürworteten, die nach Calvins Genfer Vorbild Erwählte wie Verworfene zu guten Werken zwingen sollte, strebten die Congregationalisten eine Gesellschaft an, aus der – analog zu ihren exklusiven Gemeinschaften der Erwählten – die Verworfenen letztlich entfernt werden sollten; man erkennt dies exemplarisch an Oliver Cromwells** Umgang mit dem Parlament, das in seinem Meinungsspektrum immer weiter reduziert wurde: Durch Ausschluß der Presbyterianer entstand 1648 aus dem Langen Parlament das Rumpfparlament und aus diesem 1653 das Parlament der Heiligen, das sich noch im selben Jahr auflöste.

* geb. 1558, gest. 1602

** geb. 1599, gest. 1658

Die ab 1620 zur nordamerikanischen Ostküste segelnden Pilgrimfathers trugen das utopische Denken dorthin, wo später die Neuenglandstaaten der USA entstanden. – Nach dem Tode Cromwells wurde das Königtum bald wiederhergestellt (1660). Von da an und bis zur Glorreichen Revolution (1688 – 1689) waren die Puritaner Bürger zweiter Klasse, nachdem sie das Land zuvor unter Cromwell beherrscht hatten. Nach 1689 übernahmen sie in England rationalistische oder quietistische Grundsätze, wodurch sie zum bald nicht mehr abgrenzbaren Teil anderer geistiger Strömungen wurden. Zugleich verschwanden die Particular Baptists. – Gleichzeitig etablierten sich die Puritaner in den Neuenglandstaaten (ohne Rhode Island) als religiöse, gesellschaftlich und politisch dominierende Gruppierung, die schließlich auch die Vorherrschaft über den Süden errangen (1865). Damit erscheint Oliver Cromwell gleichsam als geistiger Vater der USA.

[Zweiter Absatz erweitert; 12. Sept.]

1 Kommentar zu „Notizen zur Utopie (3)“

Kommentieren