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Rückblick auf den hiesigen Maoismus in seinem Zusammenhang (8)

In den bisher unternommenen Betrachtungen ist deutlich geworden, daß die als Achtundsechziger bezeichnete, hauptsächlich studentische Bewegung im Kern von der undogmatischen Linken geprägt wurde, während der Maoismus sich eher am Rande befand, was ins Besondere am Beispiel der KPD/ML deutlich wurde, die sich bereits beim I. ordentlichen Parteitag 1971 bemühte, die Partei von solcher kleinbürgerlichen Intelligenz zu reinigen. Die undogmatische Linke wiederum, dies zeigte sich an ihrem Repräsentanten Rudi Dutschke, gründete sich weniger auf marxistisch-sozialistische Tradition als auf bakunistisch-anarchistische. Im Zentrum stand nicht das Streben nach Errichtung einer Diktatur des Proletariats, sondern das Bestreben, alle staatliche Ordnung zu zerstören. Darum vermochte es die undogmatische Linke auch, sich mit all jenen Kräften zu verbinden, denen an einer Beseitigung der Staatsmacht gelegen war und die an die Stelle der überlieferten Form gesellschaftlicher Ordnung ihre mehr oder weniger utopischen Ideen verwirklicht sehen wollten. Die innere Logik im Ablauf der Geschehnisse ließ in Mitten der undogmatischen Linken einerseits den Terrorismus entstehen (1968 – 1970) und verband sie andererseits aus dem genannten Grunde mit verschiedensten, gegen die bestehende Ordnung aufbegehrenden Kreisen, deren Spektrum von den Freunden der Paedophilie bis zu den Rauschdrogenkonsumenten reichte und von antiautoriärer Erziehung mit alternativem Landbau bis zur New Age Esoterik; des weiteren kamen – inspiriert aus dem angloamerikanischen Bereich – ein manichäistisch fundierter Umweltschutzgedanke hinzu sowie der biologistische Feminismus samt dem Anti-Racismus in seinem Gefolge. [26. Nov.: „Astrologie“ ersetzt durch „New Age Esoterik“]

Der Terrorismus entwickelte sich rasch: Nach der Entlassung von Baader und Ensslin bis zu einer möglichen Revision der Verurteilung zu dreijähriger Haft, die beide nutzten, um unterzutauchen, war Baader erneut festgenommen worden. Zusammen mit der Ensslin hatte er sich in West-Berlin dem Rechtsanwalt Mahler* angeschlossen, der im Anschluß an das Konzept der Stadtguerilla eine Terrorgruppe zu gründen gedachte. Zu den dreien stieß u.a. die – ehemals bei der durch die DDR ins Geheim finanzierten Zeitschrift „konkret“ beschäftigte und inzwischen als Lehrbeauftragte am Institut für Publizistik der FU Berlin tätige – Journalistin Meinhof**. Diese Bande stahl vorerst Fahrzeuge und suchte an Waffen zu gelangen. Baader wurde zwar im April 1970 festgenommen, doch gewährte man ihm im Mai ein Treffen mit Meinhof, und dieses diente dazu, Baader gewaltsam aus der Haft zu befreien. Von da an sprach die bundesdeutsche Öffentlichkeit von der Baader-Meinhof-Bande. Noch in demselben Jahr 1970 erhielten deren Mitglieder bei der palaestinensischen Fatah in Jordanien eine Kampfausbildung.

* Horst Mahler; geb. 1936

** Ulrike Meinhof; geb. 1934, gest. 1976 [Selbstmord]

1971 nannte sich die Terrorgruppe erstmals Rote Armee Fraktion; in der betreffenden Flugschrift aus dem April jenes Jahres, „Das Konzept Stadtguerilla“, wurden zwar einige Sentenzen Maos angeführt, doch es handelte sich bei der Baader-Meinhof-Bande nicht um Maoisten, geschweige denn um Anhänger des Marxismus-Leninismus, was ihnen auch selbst gedämmert haben muß, da sie sich gegen die – ganz zutreffende – Bezeichnung als Anarchisten zu wehren suchen, obwohl sie „den persönlichen Heroismus vieler Anarchisten für ganz und gar nicht verächtlich“ hielten und der – nicht weiter begründeten – Ansicht waren, ihre marxistischen Kritiker gebräuchten einen falschen „Anarchismusbgriff“.* „Das Konzept Stadtguerilla“ verweist mehrmals auf Blanqui, den Marx und Engels keineswegs schätzten; das Pamphlet grenzt sich von den Blanquisten ab, die die Revolution als Staatsstreich einer kleinen Verschwörergruppe verstanden, und nennt Blanqui zugleich „einen großen Revolutionär“.** Man sieht offenbar selbst, daß man nicht in marxistischer Tradition steht, sucht den Grund dafür aber nicht bei sich, sondern anderswo: „Dieser Regierung scheint es auch zu gelingen, die Neue Linke von den alten Antifaschisten zu trennen und damit die Neue Linke einmal mehr von ihrer Geschichte, der Geschichte der Arbeiterbewegung, zu isolieren.“*** – Wie sollte ein Marxist je so sprechen! Man erkennt dabei nichts von der entscheidenden Bedeutung der ökonomischen Basis als dem grundlegenden Aspekt des stets objektiv gegebenen Seins, sondern die Linke erscheint als Phänomen eines losgelösten, subjektiven Bewußtseins, so daß es der Regierung gelingen kann, [mittels Propaganda] ein falsches Bewußtsein herzustellen, wodurch eine Neue Linke entsteht, die nichts mehr mit der Alten Linken verbindet; das Bewußtsein bestimmt das Sein: Es wird noch zu klären sein, woher solches Denken auf Seiten der Linken stammt.

* I. Konkrete Antworten auf konkrete Fragen

** I. Konkrete Antworten auf konkrete Fragen; Louis-Auguste Blanqui; geb. 1805, gest. 1881

*** II. Metropole Bundesrepublik

Das Pamphlet vom April 1971, zu dem verschiedene Verfasser beigetragen haben mögen, so daß es tw. in einer Gossensprache formuliert ist, tw. auch nicht, zielt in seiner Theorie bezeichnender Weise letztlich nicht auf die Emanzipation der Arbeiterklasse, sondern bemüht sich vor allem um diejenigen, „die aufgrund ihrer sozialen Herkunft und Lage nicht anders als kriminell überleben können: den Untergrund,* das [Lumpen- bzw.] Subproletariat, unzählige proletarische Jugendliche, [womit Kriminellennachwuchs gemeint ist,]** Gastarbeiter***.“**** Auch die Intellektuellen bzw. ihr Nachwuchs findet Beachtung: Die Studenten werden bedauert wegen „ihrer psychischen Verelendung in Wissenschaftsfabriken…, [und zu kritisieren ist höchstens die pathetische Art, in der sie sich] mit den ausgebeuteten Völkern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens identifizier(t)en…“ Dabei haben sie bereits wichtige theoretische und praktische Arbeit geleistet: „Es ist das Verdienst der Studentenbewegung in der Bundesrepublik und Westberlin – ihrer Straßenkämpfe, Brandstiftungen, Anwendung von Gegengewalt, ihres Pathos, also auch ihrer Übertreibungen und Ignoranz, kurz: ihrer Praxis, den Marxismus-Leninismus im Bewußtsein wenigstens der Intelligenz als diejenige politische Theorie rekonstruiert zu haben, ohne die politische, ökonomische und ideologische Tatsachen und ihre Erscheinungsformen nicht auf den Begriff zu bringen sind, ihr innerer und äußerer Zusammenhang nicht zu beschreiben ist.“+ Daß dieser Marxismus-Leninismus erst rekonstruiert werden mußte, obwohl es doch einen real existierenden Ostblock und obendrein den Maoismus Rotchinas gab, läßt sogleich erahnen, daß es sich bei demjenigen, was stattdessen nun als Marxismus-Leninismus ausgegeben wird, um eine unzutreffend etikettierte Ideologie handelt, und tatsächlich wird in dem Flugschreiben auf Horkheimer, Adorno, Marcuse und Reich verwiesen, aber nirgends auf Marx und Engels; Lenin wird zwar drei Mal zitiert, aber dabei historisiert.++

* vgl. Bakunins Räuber

** Ulrike Meinhof hatte sich als Journalistin in der Heimkampagne der APO (1969) engagiert, die – im Anschluß an die Randgruppenstrategie des späteren Marcuse – auf die Befreiung der in Fürsorgeeinrichtungen untergebrachten, straffällig gewordenen Jugendlichen abzielte, und auch bei der Befreiung Baaders diente ein vorgeblich gemeinsames Buchprojekt von Meinhof und Baader über randständige Jugendliche als Vorwand für das Treffen, das dann zu der mit Waffengewalt ermöglichten Flucht mißbraucht wurde.

*** als Vorhut der späteren Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchenden

**** VI. Legalität und Illegalität

+ III. Studentenrevolte

++ zu letzterem s. IV. Primat der Praxis

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Marx und Bakunin

Im Zentrum der Theorie des Pamphlets steht nicht die Arbeit, die Ökonomie, sondern der Kampf, die Gewalttätigkeit: „Wer ein bestimmtes Ding oder einen Komplex von Dingen direkt kennenlernen will, muß persönlich am praktischen Kampf zur Veränderung der Wirklichkeit, zur Veränderung des Dinges oder des Komplexes von Dingen teilnehmen…“* Man könnte auch sagen: Wer etwas verstehen will, muß es verändern, d.h. an die Stelle von dessen bisheriger Gestalt eine andere setzen, er muß es zerstören. Die Destruktion verwirklicht nicht konkrete Ziele, sondern sie erscheint als Selbstzweck, kaschiert mit der Verheißung eines ihr nachfolgenden Kommunismus. Dem entspricht das Selbstverständnis der RAF als bewaffneter Arm einer nicht existierenden KP, die sich dadurch nicht in Frage gestellt sieht, daß sie als Avantgarde einer „sozialistische[n] Massenorganisation“** operiert, die gar nicht vorhanden ist. Es zeigt sich darin wieder das bakunistische Verständnis von Revolution und Kommunismus, das davon ausgeht, es müsse nur der Staat zerstört werden, dann entstünde die klassenlose Gesellschaft. „Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören.“***

* IV. Primat der Praxis

** III. Studentenrevolte

*** V. Stadtguerilla

Nach der Rückkehr aus dem Nahen Osten wurden von der RAF vor allem Banküberfälle verübt; u.a. Mahler wurde bereits 1970 festgenommen. Die Gewalttätigkeit der Baader-Meinhof-Bande nahm zu; es wurden nun Sprengstoffanschläge durchgeführt, und 1972 gab es dabei die ersten Toten. Noch in demselben Jahr wurden die meisten Bandenmitglieder gefaßt; seitdem saßen Baader, Ensslin, Meinhof und weitere Angehörige ihrer Terrorgruppe – wie der oben erwähnte Meins – im Gefängnis. – Hätte es sich allein um einzelne, ideologisch Verwirrte gehandelt, hätte die Geschichte des RAF-Terrors damit ihr Ende gefunden, doch es gab nicht nur einen weiten Kreis von Sympatisanten, sondern auch zahlreiche weitere zu Terror und Mord Bereite; so bildete sich eine zweite Generation der RAF, die 1975 bis 1977 vergeblich versuchte, die inhaftierte erste Generation freizupressen; dazu kooperierte man auch mit der palaestinensischen PFLP, der Volksfront zur Befreiung Palaestinas. 1982 wurden Rädelsführer der zweiten RAF-Generation festgenommen, woraufhin sich eine dritte Generation bildete, die ihren Terror weniger gegen die Staatsmacht richtete, sondern ab 1985 vor allem führende Persönlichkeiten der deutschen Wirtschaft umbrachte, was die Frage aufwirft, wessen Interessen diese Terroristen eigentlich dienten, gleich wie auch immer sie ihre Taten ideologisch verbrämten. 1998 fand jedoch auch dies sein Ende, da die dritte Generation der RAF bekanntgab: „Es war ein strategischer Fehler, neben der illegalen bewaffneten keine politisch-soziale Organisation aufzubauen. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.“*

* Nach der Wiedervereinigung hatte sich die SED eine Nische innerhalb der Neuen Linken zu suchen und nahm sich u.a. der verbliebenen Überreste der aufgelösten RAF an, was sich schon an Hand personeller Verbindungen erkennen läßt. Besondere Bekanntheit erlangte der Fall des ehem. Terroristen Klar (Christian Klar; geb. 1952), eines der Rädelsführer der zweiten Generation der RAF, der nach seiner vorzeitigen Entlassung aus der Haft (2008) eine Beschäftigung im Bureau eines Bundestagsabgeordneten der – inzwischen die LINKE genannten – Partei fand.

Die Geschichte des bakunistischen Anarchismus hatte sich damit jedoch keineswegs erledigt, denn der Kampf gegen den Staat und alle Ordnung überhaupt fand neben dem Terrorismus auch weitere Formen „revolutionärer Praxis“. – In demselben Jahr 1970, in welchem mit der Bildung der Baader-Meinhof-Bande 1970 der Terrorismus in der alten BRD eine neue Qualität gewann, wurden auch die ersten Häuser – nach niederländischem Vorbild – besetzt. Wie auch immer man dies zu rechtfertigen suchte, es zielte darauf ab, einer ganz bestimmten Klientel Wohnraum gratis zur Verfügung zu stellen; in Frankfurt sollten Studenten und Gastarbeiterfamilien besetzte Häuser nutzen (1970), in Hamburg sollte ein besetztes Gebäude als Wohnhaus von Studenten, Lehrlingen und Gastarbeitern und gleichzeitig als Begegnungsstätte dienen (1973). Während die Politik in den siebziger Jahren noch auf die Durchsetzung des Rechts setzte, ging man in den achtziger Jahren allmählich zu nachträglicher Legalisierung von Hausbesetzungen über, wodurch „rechtsfreie Räume“ entstanden: Dort galt die staatliche Ordnung nicht mehr oder zumindest nicht mehr in vollem Umfang, und dies entsprach exakt dem politischen Programm hinter den Hausbesetzungen, auch wenn dies den einzelnen „Aktivisten“ nicht unbedingt klar war.

Der Begriff „Autonome“ weist ebenfalls auf die Bestrebung hin, sich der staatlichen Ordnung zu entziehen. Seit dem Ende der siebziger Jahre bilden „Autonome“ auf Demonstrationen einen „Schwarzen Block“ von Vermummten, die sich durch Gewalttätigkeit auszeichnen. – Solche „Autonome“ traten anfangs vor allem bei Anti-Atomkraft- und Friedens-Demonstrationen auf, mischten sich also unter Umweltschützer und Pazifisten. – Sozusagen den terroristischen Zweig der „Autonomen“ bildeten die „Revolutionären Zellen“, die im Gegensatz zu den Mitgliedern der RAF nicht im Untergrund lebten, sondern eine eine scheinbar bürgerliche Existenz als Fassade aufrechterhielten. Die „Revolutionären Zellen“ verübten ihre Anschläge zwischen 1973 und 1993.

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