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Grundgesetzlicher Mythos

Noch einmal kehre ich zurück zu fauxelles Artikel „Merkels Logik“. Es geht darin darum, daß die derzeitige Kanzlerin – und nicht nur sie allein – das Grundgesetz über dessen ersten Artikel auf die Gesamtheit der Menschen ausdehnt, obwohl eine Verfassung immer nur einen Teil aller Menschen betrifft, nämlich jeden Menschen eines bestimmten Staatswesens, das entsprechend der vorgenannten Verfassung geordnet ist: „Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt: die Würde des Menschen ist unantastbar. Da geht es um jeden Menschen [auf der Erde, also alle Menschen].“ Soweit Merkel. – Angesichts dessen stellt fauxelle fest: „Merkel benutzt die alltagssprachliche Vermischung von ,alle‘ und ,jeder‘, um  – mir nichts, dir nichts –  jeden Menschen (der auf dieser Welt lebt und leben wird, ist damit impliziert) als Empfänger der Segnungen ,unseres Grundgesetzes‘ zu adressieren.“ Doch: „Nur weil das Grundgesetz  universelle* Geltung hat (sich also…auf  alle* Menschen richtet), ist damit nicht  jeder* Mensch gemeint.“ – Aristotelisierend ließe sich auch sagen: Es werden von Merkel alle Menschen auf der Welt zu potentiellen Adressaten des GG’s erklärt, und dies aktualisiert sich, sobald sie die nicht-existierenden Grenzen der BRD überschreiten.

* im Original g e s p e r r t

Betrachten wir zunächst die grammatikalische Struktur des ersten Absatz des ersten Artikels des GG’s, um von der Form her den Inhalt noch genauer zu erfassen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Bevor überhaupt vom deutschen Volk, dem ja das GG gilt, im zweiten Absatz die Rede ist,* geht es um die Menschenwürde und die staatliche Obrigkeit, und zwar nicht unbedingt nur die deutsche.

* „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Der erste Satz ist ein Aussagesatz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Würde er eine Norm setzen und dazu aufrufen, die Würde des Menschen nicht anzutasten, müßte er etwa folgendermaßen lauten: „Die Würde des Menschen sei unantastbar!“ – Es gibt zwar die Möglichkeit, eine Aufforderung durch die Zusammenstellung eines Subjektes mit „ist + Adjektiv“ zu formulieren, z.B. „dies ist unerläßlich“ oder „das ist erstrebenswert“, doch dabei steckt das Sollen im Adjektiv; unerläßlich bzw. nicht zu unterlassen, erstrebenswert bzw. wert, es zu erstreben. Dem entspricht „jenes ist unantastbar“ kaum; es steckt nichts dem Unterlassen oder Wertsein der vorigen Beispiele Entsprechendes darin.

Die Aufforderung mit „ist…zu“ schließt sich erst im nachfolgenden Satz an: „Sie (sc. die Würde des Menschen) zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ – Es ist nicht vom deutschen Volk o.ä. die Rede. Auch wenn der zweite Satz eine Aufforderung ist, scheint sie sich nicht im Besonderen an die staatliche Obrigkeit der BRD, sondern an diejenige in aller Welt zu richten: „Sie (sc. die Würde des Menschen) zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt [auf Erden].“ In solcher Universalität entspräche der zweite Satz dem ersten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Wie aber ist der Befund zu erklären, daß eine Aussage voransteht, der die sich darauf beziehende Aufforderung erst nachfolgt? – Mich erinnert diese Anordnung an den Mythos und seine Begründung von Handlungsanweisungen.* In der – von der Gegenwart qualitativ verschiedenen und darum nicht zu hinterfragenden – Vergangenheit hat sich etwas ereignet, das alle nachfolgenden Zeiten bestimmt und damit auch unbedingte Forderungen erhebt. So hat beispielsweise in mythischer Urzeit Stamm a den Stamm b überfallen und auch noch seinen Gott A dazu gebracht, den Gott B anzugreifen. Heutzutage muß jeder, der b angehört, die Leute von a bekämpfen, und er darf nie A verehren, sondern nur B. Dieses Gebot ist unbedingt; es läßt sich nicht hinterfragen oder relativieren, weil es auf einem Geschehen beruht, das in gründender Urzeit die Lebensverhältnisse ein für allemal geordnet hat.**

* Es gibt auch Mythen, die einen Sachverhalt erklären. So ist alles Meerwaaser salzig, weil einmal eine Salz mahlende Mühle ins Wasser gefallen ist, die nicht angehalten werden kann; keine Mühle in unserer Gegenwart vermöchte dies; es war eben nur möglich, weil das Geschehen in mythischer Urzeit stattgefunden hat. – Diese Geschichte wird als Märchen aus Norwegen oder als Volkssage bezeichnet; von der Form her handelt es sich jedoch um einen Mythos, dessen Handlung weder jenseits der Zeit, noch in der geschichtlichen Vergangenheit angesiedelt ist.

** Übrigens kommt Ex. (2. Mose) 17, 16 dem recht nahe.

Von daher betrachtet erscheint der erste Artikel des GG’s ganz plausibel. In einer höheren Wirklichkeit* kam es zu der Feststellung, daß die Würde des Menschen unantastbar ist. Daraus ergibt sich die unbedingt Forderung, daß alle staatliche Gewalt bzw. Obrigkeit, die Menschenwürde zu achten und zu schützen hat. Im nächsten Schritt geht es dann erst von der Ebene der Universalität hinunter auf die der Verfassung für einen Teil aller Menschen. Das deutsche Volk wird im zweiten Absatz erwähnt, und im dritten geht es dann um die Grundrechte des GG’s.

* Etwa in der UNO, in der 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde; daß es im ersten Artikel des GG’s um die Menschenrechte geht, macht der nachfolgende zweite Absatz deutlich: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum [- ohne eigens gefragt worden zu sein -] zu [den von der UNO erklärten] unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ – Es fehlt der bestimmte Artikel „den [von der UNO erklärten]“ im Text, doch welche Menschenrechte sollten sonst konkret gemeint sein?

Natürlich ist Merkels Logik, die darauf abzielt, alle Menschen zu Adressaten des GG’s zu erklären, verfehlt. Doch das GG selbst scheint dem Vorschub zu leisten, und zwar in einer Weise, die 1949 kaum absehbar war. Inzwischen verhält es sich so, „daß die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte zum gern affirmierten Instrument des Großen Austauschs wird…“

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