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Was ist „fact“, und was ist „fake“? – Zugleich ein Beitrag zum Reformationsjubiläum

Ludwig Wittgensteins* „Tractatus logico-philosophicus (1921)“ beginnt mit dem Satz „1 Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Es geht in diesem Satz um eine objektive Wirklichkeit; derselbe Satz bedarf allerdings eines Subjektes, um niedergeschrieben zu werden, wie die objektive Wirklichkeit eines sie beobachtenden Subjekts, das uns gelegentlich seine Beobachtungen mitteilt, soweit wir dasselbe nicht selbst bemerken.** Wittgenstein definiert weiter: „1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“ – Im Folgenden heißt es dann: „2 Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. 2.01 Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen).“ „Sachverhalte“ gibt die englische Übersetzung des Tractatus mit „atomic facts“ wieder: „2 What is the case, the fact, is the existence of atomic facts. 2.01 An atomic fact is a combination of objects (entities, things).“

* geb. 1889, gest. 1951

** So heißt es auch in Wittgensteins „Tractatus“: „2.1 Wir machen uns Bilder der Tatsachen.“, wobei nur ungewiß bleibt, wer „wir“ Subjekte angesichts der objektiven Sachverhalte sind, da zuvor Folgendes definiert wird: „1.1 Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“. Nach 6.374 gibt es dann auch noch solches, was „wir wünschen“, obwohl kein „logischer Zusammenhang zwischen Willen und Welt“ bestehe. – Für den „Tractatus“ schiene es weit angemessener, wenn es allein die objektive Realtität gäbe, keine Subjekte, die sich damit befassen und in – eigentlich überflüssigen Bildern – die Welt der Sachverhalte verdoppeln. „6.52 Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.“

Dem entsprechend lassen sich sich „facts“ eindeutig feststellen, z.B. nach der jüngsten Forsa-Umfrage würden …% der Partei xy ihre Stimme geben, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre. – Wie verhält es sich jedoch mit komplexeren Aussagen, z.B.: „Die SPD ist eine Volkspartei.“ Ist dies ein fact oder fake? Die Antwort fällt deshalb nicht leicht, weil man sich erst einmal darüber einigen muß, was „Volk“ in diesem Zusammenhang bedeutet und dabei der Begriff „Partei“.

Bei offenbarter und dogmatisierter Wahrheit läßt sich recht sicher feststellen, was damit übereinstimmt und was nicht; hinsichtlich der empirischen Wirklichkeit fällt dies schon schwerer, wenn man auf Gott als absoluten Maßstab* verzichten will: Was ist fact, was fake – was gar öffentlich bekundetes Falschdenken? – Bereits Karneades**, ein Vertreter der akademischen*** Skepsis, stellte die Wahrhaftigkeit sinnlicher Wahrnehmung nicht grundsätzlich in Frage, und er zeigte sich bereit, ihr sogar so weit zu vertrauen, daß er Wahrscheinlichkeitsurteile zuließ. Doch scheint Karneades den Schlußfolgerungen auf der Basis der Wahrnehmungen desto mehr mißtraut zu haben, je weiter sie sich von den unmittelbaren Sinneseindrücken entfernten.

* vgl. Augustinus, Conf. XI, 4, 5 [Geschöpfe als veränderliche (bzw. unvollkommene) Abbilder von Gottes Gutheit, Schönheit und Sein]; ebd. VII, 15, 20 [seiend und wahr sind gleichzusetzen]

** geb. 214/213, gest. 129/128 v. Chr.; Scholarch ca. 164/160 – 137/136 v. Chr.

*** d.h. der in Platos Schule [während der hellenistischen Ära] vorherrschenden

Wie wenig sich die Wahrheit auf – amtlich zu verifizierende – Tatsachen festlegen läßt, deren öffentliche Leugnung zu sanktionieren wäre, soll das folgende Beispiel zeigen: Eine Legende, die eine tiefere Wahrheit enthält, obwohl sie mit den Fakten keineswegs übereinstimmt.

Luthers Freund Alexi(u)s, so eine im 19. Jahrhundert öfter aufgegriffene mündliche Überlieferung* ungewisser Entstehungszeit, sei 1505 bei Stotternheim unmittelbar neben dem künftigen Reformator stehend oder gehend vom Biltz erschlagen. Daraufhin sei das vorgebliche „Heilige Mutter Anna, hilf mir!** Ich will ein Mönch werden!“ ausgerufen worden.

* Es entstanden auch versch. bildliche Darstellungen der Szene, die – gewiß entgegen den bewußten Absichten der Künstler – an Kain und Abel erinnern; s. z.B. Ferdinand Pauwels „Luthers Freund wird vom Blitz erschlagen (1872)“.

** Bemerkenswerter Weise rief Luther nach dem Duell 1503, bei dem er schwer verwundet worden war und zu verbluten drohte, in ganz ähnlicher Weise die Mutter Gottes an, Annas Tochter: „O Maria hilf!“ Dies berichtete Luther in einer Tischrede 1531, wobei er seine lebensbedrohliche Verwundung allerdings einem Unfall zuschreib, er habe sich selbst in einer einsamen Gegend mit dem Degen verletzt, doch da sei ein Kommilitone zugegen gewesen, der einen Chirurg aus der nächsten Stadt zu Hilfe holte.

Man braucht nur den Namen Alexi(u)s gegen den des Kommilitonen Hieronymus Buntz auszutauschen, der wahrscheinlich von Luther erstochen wurde,* um zu erkennen, wieviel Wahrheit in dieser Legende steckt: Buntz sackt neben Luther tödlich getroffen zu Boden; in Luthers Hand blitzt die Klinge nicht mehr, weil sie nun von Blut bedeckt ist. Ein Streit zwischen den Studienkameraden Luther und Buntz im Anschluß an eine Magisterprüfung war wohl in eine Messerstecherei ausgeartet; das Tragen eines Degens war Luther möglicherweise nicht mehr erlaubt, seit er sich 1503 bereits mit einem Kommilitonen duelliert hatte. – Wie in einem Traumbild wird von der Legende das tatsächlich Geschehene verrätselt dargestellt: Der Zorn wird zum Donnergrollen des Gewitters, das Messer zum Blitz.**

* Um diese Erkenntnis verdient gemacht haben sich vor allem der Mediziner Dietrich Emme (geb. 1924, gest. 2015; hier: „Gesammelte Beiträge zur Biographie des jungen Martin Luther, 2016“) und der katholische Theologe und Psychologe Albert Mock (geb. 1929; hier: „Abschied von Luther, 1985“)

** Noch konkreter wird eine Variante der Alexi(u)s-Legende, die erzählt, derselbe sei in einer Gewitternacht meuchelmörderisch erstochen worden;  s. dazu Gustav Pfizer, „Martin Luthers Leben (1836)“

Luther flieht ins Kloster und wird Mönch, um sich der weltlichen Gerichtsbarkeit zu entziehen. – Die Erzählung vom Blitz, der eine Lebenswende einleitet, entstammt der Vita des hl. Norbert*, des Gründers der Praemonstratenser. Doch ist auch die Erzählung vom Damascuserlebnis mit der Wandlung vom Saulus zum Paulus als Parallele zu Stotternheim erkannt worden, und zwar durch den protestantischen Theologen Tholuck** in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tholuck schwante bereits, was sich eigentlich ereignet hatte, doch seine Ahnung wurde von den Vertretern des offiziellen Lutherbildes sogleich zurückgewiesen, und Tholuck selbst hat dieser intuitiven Erfassung der Zusammenhänge offenbar kein allzu großes Gewicht beigemessen, sie nicht verteidigt; er ist dem nicht weiter nachgegangen.

* geb. wohl 1082, gest. 1134

** Friedrich-August Tholuck; geb. 1799, gest. 1877; der fünfzig Jahre lang als Professor in Halle lehrende Sohn eines Goldschmiedes, der sich nach seinem Erweckungserlebnis (1818) der Theologie zuwandte, erlangte zuerst Bekanntheit nicht etwa durch ein theologisches Werk, sondern durch seinen urspr. anonym veröffentlichten Briefroman „Guido und Julius. Der Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder Die wahre Weihe des Zweiflers (1823)“.

In seinem Werk „Die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte, zugleich eine Kritik des Lebens Jesu von Strauß*, für theologische und nichttheologische Leser dargestellt (1837)“ erkennt Tholuck die Beschreibung des „Leben[s] des protestantischen Apostels [Luther] als eine Nachbildung des christlichen Apostels [Paulus]“**. „Die Straße nach Erfurt und der Blitz, ist sie nicht das Nachbild des Weges nach Damaskus und des himmlischen Lichtes? und wenn dort die Anklage des Gewissens über den Mord des Stephanus die subjektive Veranlassung der himmlischen Vision war, wer weiß, welches ahnungsschwangere Räthsel über dem Alexis ruht, von dessen Unfall auch selbst [Luthers Weggenosse] Melanchthon so dunkel redet, daß wohl eine geheime Schuld daran zu haften scheint, die den schuldbeladenen Luther in die Mönchszelle trieb!“***

* Gemeint ist: David Friedrich Strauß, „Das Leben Jesu kritisch bearbeitet Bd. 1 – 2 (1835 – 1836)“

** S. 59

*** ebd.

[17.6. „gibt es dann auch noch Dinge, die ,wir wünschen'“ in der zweiten Anm. zum ersten Absatz ersetzt durch „gibt es dann auch noch solches, was ,wir wünschen'“]

[17.6. Ergänzung der auf die „Confessiones“, Bekenntnisse, Augustins bezogenen Anm.]

[19.6. In der Anm. über bildliche Darstellungen zum Zum Absatz „Luthers Freund…“ das Wort „bewußten“ ergänzt.]

 

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