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Grundgesetzliche Übergangszeit

Nach einen dritten Anlauf unternehme ich, um zu verstehe, warum es problematisch ist, wenn geschlußfolgert wird: „Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt: ,Die Würde des [bzw. aller] Menschen ist unantastbar.‘ Da geht es [also] um jeden Menschen [auf der Erde].“ Klar geworden war bereits im ersten Beitrag dazu, daß sich eine Verfassung auf das Volk einer bestimmten Region und deren Staat bezieht, während alle Menschen den gesamten Erdball bewohnen, sämtliche Regionen, in denen jeweils eigene Verfassungen gelten.

Von daher scheint es ausgeschlossen, daß sich eine bestimmte Verfassung auf die Menschheit bezieht, auf „alle Menschen“, sondern es kann nur um jeden Bürger gehen, der unter einer bestimmten Verfassung lebt. Insofern trifft es zu, wenn la fauxelle schreibt: „Merkel benutzt die alltagssprachliche Vermischung von „alle“ und „jeder“, um  – mir nichts, dir nichts –  jeden Menschen (der auf dieser Welt lebt und leben wird, ist damit impliziert) als Empfänger der Segnungen „unseres Grundgesetzes“ zu adressieren.“ – Allerdings – könnte Merkels Interpretation nicht dadurch gerechtfertigt sein, daß eben dem Grundgesetz als Verfassung der Artikel 1 mit den Grundrechten jedes Menschen auf der ganzen Welt vorangestellt ist? Demnach läge der Fehler weniger bei Merkel als bei den Verfassern des Grundgesetzes: Wenn sie der Verfassung eines Landes einen Artikel voranstellten, der sich auf die Menschheit und deren Rechte bezieht, dann gleicht dies doch dem Anbringen eines Schildes über dem Haus einer Familie, das jedem Bürger des ganzen Landes das Recht auf ein Obdach zuspricht, weshalb dort jeder nach Belieben Zuflucht suchen darf.

Die Verfassung eines Landes beschränkt sich auf das Irdische; ihr Zweck besteht in der Ordnung des gesellschaftlichen Lebens, der das Gemeinwohl gewährleistet, worunter man gegenwärtig einen möglichst hohen Konsum für alle versteht. Das Gemeinwohl, bonum commune, bezeichnet ursprünglich jedoch das Gute für alle Bürger. Da nun Gott das höchste Gut bildet, steht das bonum commune in Bezug zu ihm. Das natürliche Streben des Menschen und damit der Bürger eines Landes nach dem höchsten Gut durch ein Gott bzw. dem Guten gemäßes Leben darf nicht von Seiten des Staates und der Gesetze behindert werden. – Schon Aristoteles lehrte, daß der Mensch auf Glückseligkeit aus sei, die er durch ein Leben gemäß der Tugend erlange,* wenn es ihm gleichzeitig an äußeren Gütern wie Gesundheit etc. nicht mangelt; die Stoa bestritt letzteres und und schlußfolgerte, daß ausschließlich die Tugend glückselig mache und somit der Natur des Menschen entspreche. Allerdings müßte der Weise dann auch noch unter der Folter glückselig sein, was offenbar kaum der Fall sein dürfte. Dieses Problem löste die Lehre der Kirche, indem sie darauf hinwies, daß zwar** das irdische Leben gemäß der Tugend zu führen ist, die Glückseligkeit in der Anschauung Gottes jedoch erst nach dem Tode erreicht wird.*** Demnach ist das irdische Leben vom Menschen so zu führen, daß er sein Ziel, das höchste Gut, nach dem Tode erreicht, und der – auf das irdische Leben begrenzte – Staat darf dieses Streben nicht hindern, indem er etwa naturgesetzwidrige Gestze erläßt.

* Wenn sich der Mensch als Vernunftswesen vernunftsgemäß verhält, entspricht er seiner Natur ist ist dann glückselig; die nachfolgend genannten äußeren Gütern entsprechen der Bindung an einen Leib.

** nach der Befreiung von der Erbsünde durch den Empfang der Taufe

*** Die Auferstehung der Toten berücksichtigt den Aspekt der Leiblichkeit.

Die Beschränkung auf das Irdische macht es unmöglich, daß der Staat die Menschen zum Guten nötigt; das wäre totalitärer Tugendterror. Die Gesetze müssen sich im allgemeinen auf das gesellschaftliche Zusammenleben beschränken und sich allenfalls ausnahmsweise in das Leben der Familien einmischen und schon gar nicht das Tugendstreben des einzelnen erzwingen.

Wenn man also im deutschen Grundgesetz die 1948 von der UN-Vollversammlung verkündeten Menschenrechten – sozusagen als Ersatz von Tugend und bonum commune – berücksichtigen wollte, – und wie sollte man nicht, da diese selbst feststellen, daß deren Mißachtung zu „barbarous acts“ geführt habe, – dann hätte man formulieren können: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Staatliche Gewalt hat sie zu respektieren, und Gesetze dürfen ihr nicht widersprechen. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich in diesem Sinne zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage der Gesellschaftsordnung Deutschlands.“ Freilich erscheinen die UN-Menschenrechte schon insofern problematisch, als sie nicht davon ausgehen, daß das Ziel der menschlichen Natur in der Anschauung Gottes besteht, sondern die höchste Sehnsucht des Menschen gelte ganz allgemein der Rede- und Glaubensfreiheit[, also dem Recht auf Irrtum und religiöser Beliebigkeit,] sowie der Freiheit von Furcht [vor irdischem Ungemach] und [materieller] Not, „freedom of speech and belief and freedom from fear and want (has been proclaimed) as the highest aspiration of the common people”. Daß der deutsche Staat dies bei seinen Bürgern voraussetze und Gesetze sie nicht zu anderem nötigten, hätte einer Verfassung entsprochen. Doch indem das Grundgesetz „alle(r) staatliche(n) Gewalt“ darauf verpflichtet, die Menschenwürde [als Ausdruck der Menschenrechte] zu schützen, geht es darüber hinaus und zielt auf ein staatliches Handeln, das dem Menschen dazu verhelfen will, seine Rechte, seine Würde zu erlangen. Dies kann letztlich nur bedeuten, daß der Staat seine Bürger zu dem – nach seinem Verständnis – Guten hin drängt. – Die Menschen zum Guten, zu Gott, zu führen, kommt aber allein der Kirche zu, wobei auch sie niemendem die Entscheidung abnehmen kann, ob er dem folgt oder sich verweigert.

Es kommt noch eines hinzu: Bedenkt man, in welcher Zeit das Grundgesetz entstanden ist, dann gewinnt Art. 1 noch einen tieferen Sinn: Das besiegte Deutschland schwört nicht nur dem von ihm verübten „barbarous acts“ ab, sondern hat den Menschen der ganzen Welt als den Siegern, also allen Menschen, ihre Rechte und Würde zuzugestehen, und alle staatliche Gewalt in Deutschland hat dem zu dienen;* schließlich war Deutschland in vier Besatzungszonen geteilt, und die alliierten Soldaten konnten als Vertreter der Menschheit betrachtet werden: „Die Würde [je]des Menschen [in unserem Lande] ist unantastbar[, d.h. jedes Vertreters der siegreichen Welt und danach auch die des besiegten Deutschen]. Sie (sc. die Menschenwürde [als Ausdruck der nachfolgend erwähnten Menschenrechte]) zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Diesem Gedankengang entspricht schließlich Merkels Interpretation: „Artikel 1 unseres Grundgesetzes heißt: ,Die Würde des [bzw. aller] Menschen ist unantastbar.‘ Da geht es um jeden Menschen [auf der Erde, und insofern gilt das Grundgesetz für alle Menschen und danach auch für die Deutschen].“

* Die nach der Niederlage im 1. WK beschlossene Weimarer Verfassung formulierte dies noch anders, indem sie – erst in Art. 4 – feststellte, daß das Völkerrecht auch auf die Deutschen – und zwar auf ausschließlich sie als die von dieser Verfassung Betroffene – anzuwenden sei: „Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts gelten als bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts.“

Die Verfasser des Grundgesetzes selbst scheinen sich dessen noch bewußt gewesen zu sein, daß sie die Verfassung eines besiegten und besetzten Landes schrieben. Daher spricht die Paeambel davon, „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung (zu) geben“ zu wollen, und abschließend heißt es in Art. 146: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

[dritter Absatz durch Anmerkungen erweitert (3.7.)]

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