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Grundgesetzlicher Ausblick

Art. 146 des Grundgesetzes lautet inzwischen, also nach der Wiedervereinigung (1990), die „von dem deutschen Volke“ nicht zum Anlaß genommen wurde, „eine [neue] Verfassung…in freier Entscheidung“ zu beschließen, durch welche das Grundgesetz „seine Gültigkeit an dem[selben] Tage“ verloren hätte: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Insofern kann das Bestreben, auf eine von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossene Verfassung hinzuarbeiten, nicht verfassungswidrig sein.

Schon auf Grund von Art. 146 erscheint das Grundgesetz in sich widersprüchlich, denn als Verfassung verpflichtet es dazu, sich als Staatsbürger ihm gemäß zu verhalten, doch indem das Grundgesetz über sich selbst auf eine zukünftige Verfassung hinausweist, legitimiert es eigentlich das Abweichen vom Grundgesetz; was als verfassungswidrig im Sinne des Grundgesetzes anzusehen ist, würde doch wieder verfassungskonform, sobald es im Sinne der Antizipation einer künftig noch zu beschließenden Verfassung verstanden wird. – Dies war bei der KPD, die 1956 verboten wurde, allerdings kaum möglich, da sie nicht auf einen Entschluß in freier Entscheidung aus war, sondern auf die proletarische Revolution. Das Bundesverfassungsgericht allerdings argumentierte ganz anders, nämlich nicht mit der Unvereinbarkeit von proletarischer Revolution samt Diktatur des Proletariats mit dem künftigen freien Beschluß einer neuen Verfassung; es führte zur Begründung eines Parteiverbotes vielmehr an, daß dieses gerechtfertigt sei, wenn eine Partei die obersten Grundsätze der freiheitlich demokratischen Grundordnung* nicht nur ablehnt, sondern ihnen gegenüber eine „aktiv kämpferische, aggressive Haltung“ einnimmt

* Dazu wurden 1956 aufgezählt: Die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, insbesondere vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip, die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. – In ähnlicher Weise heißt es zur Begründung des Verbots der SRP 1952: „Die Angriffe der Partei richteten sich in steigendem Maße nicht nur gegen die konkreten politischen Zielsetzungen der Regierung, sondern gegen die Form der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik schlechthin.“ Die SRP gehe darauf aus, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen (Art. 21 II GG).“

Es darf sich bei den Bestrebungen zur Herbeiführung einer neuen Verfassung demnach nicht um das Anliegen einer politischen Partei handeln, denn einer solchen drohte dann das Verbot, da in Art. 21 (2) des Grundgesetzes heißt es: „Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.“ – Wer aber sollte dann auf die neue Verfassung hinarbeiten, wenn es den Parteien untersagt ist?

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Ein möglicher weiterer Widerspruch innerhalb des Grundgesetzes besteht darin, daß es einerseits die Verfassung – zumindest eines Teils – des deutschen Volkes sein will, und andererseits soll nach Artikel 1 (1) „alle(r) staatliche Gewalt“ nicht etwa den Interessen des deutschen Volkes dienen, sondern sie hat die Aufgabe, die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“; welcher Winkel der Erde, welcher Mensch wäre davon auszunehmen?

Es scheint jedoch so, daß zumindest der Widerspruch zwischen der Partikularität des deutschen Volkes und Universalität der Aufgabe, die Menschwürde zu achten und zu schützen, nunmehr aufgelöst worden ist. In seinem Urteil, das die NPD für verfassungswidrig erklärte, ohne sie zu verbieten, führte das Bundesverfassungsgericht nämlich im Januar 2017 aus: „Sie (sc. die NPD) will die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten ,Volksgemeinschaft‘ ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen.“ Die Verfassungswidrigkeit besteht nicht so sehr im autoritären Charakter des angestrebten Nationalstaates, sondern in dessen Gründung auf eine Ethnie. Es heißt deshalb unter „Wesentliche Erwägungen des Senats 3. a) Das politische Konzept der NPD ist auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet. [Denn:] aa) Der von der NPD vertretene Volksbegriff verletzt die Menschenwürde. Er negiert den sich hieraus ergebenden Achtungsanspruch der Person und führt zur Verweigerung elementarer Rechtsgleichheit für alle, die nicht der ethnisch definierten „Volksgemeinschaft“ in ihrem Sinne angehören. Das Politikkonzept der NPD ist auf die Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von gesellschaftlichen Gruppen (Ausländern, Migranten, religiösen und sonstigen Minderheiten) gerichtet.“  Demnach befände sich ein als Ethnie verstandenes deutsches Volk nicht im Einklang mit seinem Grundgesetz; vielmehr darf das Volk nur aus lauter Personen [beliebiger Herkunft] bestehen und niemanden ausgrenzen, um dessen Menschenwürde nicht zu verletzen.

Wenn das deutsche Volk im Grundgesetz also genannt wird, dann ist die Gruppe derjenigen Personen gemeint, deren Verfassung das Grundgesetz bildet. – Als das Grundgesetz 1949 in Kraft trat, so mag man einwenden, bestand das deutsche Volk noch aus lauter ethnisch Deutschen. Darauf ist zu erwidern, daß dies nur auf Grund seiner dunklen Vergangenheit der Fall war. Auch 1949 bestand das Volk der Grundgesetzes bereits aus lauter Personen, die sich bis dahin zu Unrecht von der übrigen Welt abgeschlossen hatten, um sich als exklusive Ethnie zu verstehen, womit sie die Menschenwürde aller übrigen Menschen verletzten.

Übrigens kann man, das sei noch angemerkt, von diesem Erklärungsschema her auch die „Ehe für alle“ als dem Grundgesetz konform verstehen: Als das Grundgesetz in Kraft trat, gab es zwar nur lauter Ehen aus Mann und Frau, doch dies hatte seinen Grund in der finsteren vorangegangenen Zeit der letzten Jahrtausende. Das Grundgesetz kannte von Beginn an nur die Ehe zwischen Personen, wes Geschlechts auch immer, und 2017 wurde das, was das Grundgesetz bis dahin nur impliziert hatte, explizit gemacht, indem endlich die „Ehe für alle“ Anerkennung fand.

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