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Zweck des Staates: Traditionelles und modernes Verständnis

Nach traditionellem Verständnis besteht der Zweck des Staat im Gemeinwohl, wozu die Sicherung des irdischen Daseins durch Schutz nach innen durch das Strafrecht und außen durch das Militär gehören sowie Verhinderung der Drangsalierung eines Standes durch einen anderen, der das Daseinsrecht der Angehörigen des ersteren beeinträchtigen würde. Der Zweck des Staates beschränkt sich auf das Irdische; er hat nicht die Aufgabe, die Menschen zu Gott zu führen oder ihnen eine Moral vorzuschreiben; das familiäre Privatleben ist nicht Angelegenheit des Staates. Vielmehr beschränkt er sich auf die Sphäre des in der Gesellschaft geltenden Rechtes, und dieses hat wiederum der Natur des Menschen Menschen als Gott ebenbildlicher Creatur zu entsprechen.

Nach traditionell-katholischem Verständnis haben die Repräsentanten des Staates allerdings anzuerkennen, daß es nur eine Wahrheit gibt und nur einen Weg zu Gott, so daß der Staat nichts unternehmen darf, was die Menschen daran hindern würde, den katholischen Glauben zu leben. Auch die Repräsentanten des Staates sind Gottes Creaturen, und ihrer menschlichen Natur entspricht es, daß sie sich einerseits selbst zu ihrem Schöpfer bekennen und es andererseits allen Menschen im Staate so leicht wie nur irgend möglich machen, sich von der – z.Z. freilich bis zur Unkenntlichkeit entstellten – Kirche* dabei anleiten lassen, Gott zu erkennen, um ihn zu lieben und schließlich erlöst zu dem der menschlichen Natur bestimmten Ziel zu gelangen. – Schon nach Aristoteles streben die Bürger [auf Grund ihrer menschlichen Natur] ein auf die – mittels der Vernunft erschlossene – Tugend ausgerichtetes Leben an**[, weshalb der dem Gemeinwohl dienende Staat dieses nicht hindern darf].

* sed „non praevalebunt“ [Matth. 16, 18]

** Pol. VII, 8f. 1328 a – 1329 a

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Wenn man die Natur des Menschen allerdings ganz anders versteht, dann ergibt sich danach auch ein anderes Verständnis von dem, was der Staat nicht behindern darf. – So hat John Locke* die Menschennatur neu definiert, indem er die Glückseligkeit aus der ewigen Anschauung Gottes in das irdische Leben verlegte und sie als „happiness“, diesseitiges Glück, verstand. Wegen der Verankerung des Strebens nach Glück, „pursuit of hapiness“, in der Natur des Menschen besteht die Notwendigkeit, diesem nachzugeben, und die menschliche Freiheit besteht darin, in diesem Streben nicht behindert zu werden: „The necessity of pursuing happiness [is] the foundation of liberty.“** Die Notwendigkeit des Glückstrebens [ist] die Grundlage der Freiheit. – Dem entsprechend nahmen die USA in die Praeambel ihrer Unabhängigkeitserklärung (1776) die Rede von Rechten des Menschen auf, die „life, liberty, and the pursuit of happiness” umfassen, Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

* geb. 1632, gest. 1704

** „An Essay Concerning Human Understanding (1690)“, II, 21, 52

Gemäß dieser Auffassung von der Natur des Menschen darf der Staat dem Glückstreben des Menschen keine Hindernisse in den Weg legen. Jeder ist frei, seine Vorstellung von Glück zu verfolgen, so lange dies nicht auf Kosten eines anderen geschieht. – Wenn man das Glücksstreben jedoch in solcher Weise grundsätzlich beschränkt werden muß, wird jeglicher „pursuit of hapiness“ von vornherein behindert; denn warum soll nicht jeder Mensch – als Wolf für den andern – sein Glück verfolgen? Der Konkurrenzkapitalismus des 19. Jahrhundert praktizierte gerade dies.

Um solcher Konsequenz zu entgehen, sprach Locke von wahrem Glück, true hapiness, als einem Ziel, dem man alles zuordnet, so daß man nicht jeder Regung nachzugeben braucht[, die den andern beeinträchtigen könnte]. Konzentriert man sich darüber hinaus auf die männlichen Vollbürgern eines ethnisch einigermaßen homogenen Staates, dann mag das Glücksstreben eines jeden in vorkapitalistischer Zeit noch plausibel erscheinen.

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Die us-amerikanische Unabhängigkeitserklärung spricht im Zusammenhang mit den Rechten des Menschen auch von deren natürlicher Gleichheit: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ Wir halten diese Wahrheiten für selbstevident, [nämlich] daß alle Menschen gleich erschaffen [sind und] daß sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet [sind und] daß darunter Leben, Freiheit und Streben nach Glück sind.

Wird die Natur des Menschen an die Gleichheit gebunden gedacht, der die gesellschaftliche Realität widerspricht, dann betrifft den Staat nicht nur das Verbot, der Natur des Menschen zuwider zu handeln, sondern er hat darüber hinaus die Ungleichheit zu beseitigen, um der Natur des Menschen gerecht zu werden; der Staat übernimmt die Aufgabe, das wahre Menschsein erst herzustellen. Solches vermag nur der totalitäre Staat, der die Gesellschaft der Gleichheitsideologie entsprechend formt. – Da die Ungleichheit schon in den Familien herrscht, hat der Staat auch in sie hineinzuregieren. Letztlich muß er jedenen einzelnen Menschen erziehen, soweit dieser nicht allen übrigen gleicht.

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